Ich haette dich geliebt
zurück.
„Entschuldige“, sagte sie. „Ich habe nicht aufgepasst.“ Ich spürte, dass sie kurz vorm Heulen war. Ich hatte Mitleid. Ein Wechselbad der Gefühle. Wir sagten den Rest der Fahrt nichts mehr. Ich beschloss, Marlene nicht mehr zu erwähnen. Nach der Ausbildung bin ich da weg, dachte ich. Dann erledigt sich alles von allein und ich würde Emma nie wieder sehen. Ich hatte ja nur noch ein Jahr vor mir.
Die Fortbildung war langweilig. Erwartungsgemäß. Emma war in sich gekehrt. Am ersten Abend nach dem Essen saß sie vor der Tür. Hockte einfach da. Ihr Körper zitterte. Sie weinte. Es ging mir so gegen den Strich, aber ich konnte auch nicht einfach weggehen. Ich war ja kein Unmensch. Also hockte ich mich neben sie und tippte an ihre Schulter. Das schien mir am wenigsten verfänglich. Sie schaute hoch. Ihre Augen waren gerötet und verquollen. Aus der Nase lief ihr die Schnodder. Wie ein kleines Kind sah sie plötzlich aus.
„Was ist denn los?“, fragte ich sie in der unheimlichen Befürchtung, dass es hier um niemand anderen als mich selbst ging. Doch ich hatte mich getäuscht.
„Meine Großmutter ist gestorben. Ich habe am Nachmittag mit meinen Eltern telefoniert. Ich hab sie zufällig angerufen. Sie haben mir nicht mal Bescheid gesagt.“
Neue Tränen kullerten über ihr Gesicht. Ein Schwall der Erleichterung überschwappte mich. Aha, es ging nicht um mich, ihre unglückliche Liebe, sondern um ihre Großmutter. Da konnte ich fachgerecht den Tröster spielen. Erst viel später erfuhr ich, dass ihre Großmutter noch lebte. Damals brachte ich sie auf ihr Zimmer und reichte ihr ein Taschentuch.
Sie krallte sich an meinem Arm fest und legte ihren Kopf auf meine Schulter. Ich konnte da so schnell nicht mehr raus. Soviel war mir klar. Wenn jemand gestorben ist, kann man den unglücklich Hinterbliebenen ja nicht einfach mit einem ,Das wird schon wieder!‘ abspeisen.
Ich versuchte, so wenig wie möglich Körperkontakt zu ihr zu haben. Doch sie arbeitete dagegen. Irgendwann lag ihr Kopf auf meinem Schoß. Ich wusste nicht, wohin mit den Händen. Das alles war verrückt. Ich fühlte mich so unwohl. Eigentlich hätte ich ihr über das Haar streicheln müssen, aber dazu war ich nicht in der Lage. Es fühlte sich schlicht und einfach falsch an.
Unterbewusst, ein ganz wenig, spürte ich, dass sie wegen ihrer Großmutter gelogen hatte. Doch ich dachte nicht weiter darüber nach. Ich saß da – stocksteif – und sie hatte aufgehört zu weinen. Mir schien, sie war eingeschlafen. Ich versuchte, ihren Kopf auf das Kissen zu legen. So vorsichtig wie möglich. Doch sie nutzte den Moment aus und zerrte mich zu sich. Sie drückte mir ihre Lippen auf den Mund. Kannst Du Dir vorstellen, wie geschockt ich war?
Ich machte mich nur mühsam los. Das kleine Ding hatte eine enorme Kraft. Ich weiß noch, wie mich das verwunderte.
„Ich geh jetzt“, sagte ich bestimmt.
Sie drehte sich zur Wand.
„Es wird schon wieder alles gut“, schob ich nach, doch sie sagte nichts.
Dann ging ich in meinem eigenen Zimmer zu Bett.
Der Rest der Fortbildung verlief ruhig. Emma war äußerst nett zu mir, am nächsten Tag. Sie bedankte sich für meine Unterstützung. Ich dachte, jetzt sei die Sache ein für alle mal durch. Marlene erfuhr nie von dem versuchten Kuss. Du weißt es jetzt. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, obwohl ich nun wirklich unschuldig war.
Wieder zurück, erzählte ich Marlene, es sei alles gut gelaufen. Sie schien erleichtert. Wir nahmen unseren Alltag wieder auf. Ich spielte den jungen wissbegierigen Fremdsprachenschüler Marlenes – und sie die Lehrerin. Für die Außenwelt.
Ich habe mich oft gefragt, weshalb niemand Verdacht schöpfte ... oder wenn doch, wieso keine Gerüchte über uns durchdrangen.
Es war damals (und heute?) keineswegs normal, dass eine Frau in Marlenes Alter sich einen jungen Geliebten hielt. Und ich hatte ja auch Konkurrenz. Nicht viele, denn die meisten Männer in Marlenes Alter waren ja verheiratet. Aber es hielt den einen oder anderen nicht davon ab, ihr nachzustellen.
Einer war besonders hartnäckig.
Walter Turner. So ein Bagalude.
Er kam in ihren Radverleih und wollte sie ständig zu irgendwas einladen. Anfangs machte mir das regelrecht Sorgen. Er war keine Vogelscheuche. Ein Mann so um die fünfzig. Kultiviert und immer bestens angezogen. Für die kleinstädtischen Verhältnisse extravagant. Er trug eine Taschenuhr, die er bei jeder erstbesten Gelegenheit hervor-holte und
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