Ich, Heinrich VIII.
man tief in ihre rote Mitte schaute, das Gesicht einer Frau. Kein Gesicht war wie das andere, und die Blumen waren doch alle gleich. Wenn ich sie pflückte und zu einem Strauß band, ließen sie in den silbernen Vasen, in die ich sie stellte, bald die Köpfe hängen, und über Nacht waren sie stets verwelkt. Ihr Duft war verlockend, aber er weckte keine Sucht in mir. Das wunderte mich, denn die Araber verwandten Mohnsamen als Medizin, von der es hieß, sie erwecke eine starke Sucht.
Die Morgensonne vertrieb die letzten Fetzen dieses seltsamen Traumes, aber der nahende Tag schmeckte bereits schal.
XXVII
K atharina wünschte, dass unser Kind zu Greenwich geboren werde. Maria war dort zur Welt gekommen, und Katharina wollte dieselbe Kammer, dieselben Bediensteten – alles sollte wieder genauso sein. Ein guter Christ soll nicht abergläubisch sein, aber ich sah über Katharinas »Verfehlung« hinweg, wenn man es überhaupt so nennen kann, denn ich beging sie ebenfalls. Alles wollte ich günstig stimmen, denn ich wusste ja nicht, aus welcher Ecke die Feindseligkeit kam.
»Ich bin hier geboren«, erzählte ich der kleinen Maria, als wir uns einen Vormittag im April damit vertrieben, im Schlossgarten zu spazieren. Sie und ich gingen vor Katharina her, die den Weg in seiner ganzen Breite für sich allein brauchte, so dick war sie inzwischen. Und das nicht nur wegen des Kindes. Sie war auch selbst höchst umfänglich geworden.
Maria sah zu mir auf. Sie liebte es, meine Stimme zu hören; das merkte ich. »Ja, ich bin hier geboren, und du bist hier auch geboren. Deine Mutter und ich haben hier geheiratet! Es ist ein besonderer Ort.«
Der Himmel über uns war gleißend blau, und ich roch den nahen Frühling in der Luft, eine eigentümliche Mischung aus Süße und Tod. Wir wandelten längs der Flussmauer, wo die Themse die Steine liebkoste.
Maria deutete zu den Möwen hinauf. »Vögel!«
Wie gut sie sprach! Wie aufmerksam sie war!
»Ja. Seevögel«, sagte ich. »Du findest sie überall, wo es ein großes Wasser gibt.« Ich schaute hinaus zu den Booten, die allenthalben dümpelten, und mein Blick verharrte vor allem bei der königlichen Landungsbrücke, wo mein lang erwartetes Flaggschiff vertäut lag. »Auf dem Wasser liegt Englands Größe«, sagte ich. »Es umgibt uns auf allen Seiten und schützt uns vor unseren Feinden, aber zugleich erlaubt es uns, es zu meistern und dienstbar zu machen. Wenn wir Schiffe haben, um auf ihm zu reiten, wie man auf Pferden reitet, so werden wir weit kommen.«
Maria deutete auf die Henri, Grace à Dieu. »Gucken.«
»Nein.« Katharina schüttelte den Kopf.
»Lass dem Kind sein Vergnügen«, sagte ich.
»Ihr meint wohl, Euer Vergnügen.« Aber sie ließ sich erweichen.
So führte ich unsere Tochter auf dem großen Schiff herum, das den Spitznamen Great Harry führte. Der Duft jeder Planke, das Knarren jedes Taues brachte etwas in mir zum Singen. Ich sehnte mich fort von hier, weit weg, auf die offene See …
Maria befühlte die Knotenleinen des Kapitäns. »Damit kann man messen, wie schnell ein Schiff fährt«, erklärte ich, und ich bog ihre dicken kleinen Fäustchen auf, damit sie die Leine fallen ließ. »Aber wir dürfen sie nicht durcheinander bringen.«
Sie begann zu wimmern, dann zu weinen. Katharina, die auf der Landungsbrücke wartete, schaute herauf. Mit den Ohren einer Mutter hatte sie Marias fernes Jammern gehört.
Sie nahm die Kleine bei der Hand, als wir über die Planke von Bord gingen, und nötigte sie, gehorsam an der Wassermauer entlangzugehen, die das Schlossgelände vom Marschland ringsumher und vom Flusse selbst trennte – denn Greenwich war zwar ein Seepalast, doch geschützt vor dem Wüten des Wassers.
Anfang Mai begab Katharina sich in die Wochenstube, und Maria und ich begleiteten sie in großer Aufregung. Ich hatte nie gedacht, dass die Gegenwart eines Kindes alle Ereignisse so sehr verändern würde. Was früher eine Staatsangelegenheit, eine öffentliche Zeremonie gewesen war, wurde jetzt zu einem Bestandteil unserer Familiengeschichte. Als Katharina sich zurückzog und die großen Türflügel sich hinter ihr schlossen, bestand Maria darauf, noch ein letztes Mal dagegenzudrücken.
»Beten gehen«, sagte sie.
Hatte Katharina es ihr zugeflüstert, ehe sie hineingegangen war? Oder war es Marias eigenem Herzen entsprungen?
»Gut. Wir werden am allerbesten Ort beten, den es gibt.«
Ich begab mich mit ihr in die Kirche der Gehorsamen Brüder, in die
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