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Ich, Heinrich VIII.

Ich, Heinrich VIII.

Titel: Ich, Heinrich VIII. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret George
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Generation nur auf einen Führer gewartet, der für sie spreche. Er hatte sie nicht bekehrt, er hatte sie entdeckt.
    Karl, der neue Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, gab sofort einen Erlass heraus, um das Lutheranertum in den Niederlanden zu unterdrücken. Die Humanisten (die er irrtümlich bezichtigte, mit ihren intellektuellen Sticheleien gegen die Kirche die Saat für das Lutheranertum gelegt zu haben) wurden von den Fakultäten der Universitäten verjagt. Luther selbst wurde zu einer Anhörung vor seine Oberen zitiert. Er legte seine Auffassungen dar und sagte dann: »Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.«
    Das Schlachtfeld war abgesteckt, und ich sah mich unter Luthers Gegnern.
    Warum stellte ich mich auf die Seite des Papstes? Manche behaupten, ich hätte mich nur bei ihm einschmeicheln wollen, um mir dann später die Maske vom Gesicht zu reißen und Flagge zu zeigen – besser gesagt, zu zeigen, dass mir keine Flagge etwas galt. In den Augen dieser Kritiker habe ich keinerlei religiöse Überzeugung; ich benutze die Religion nur zur Verfolgung meiner eigenen Ziele. Eine nicht minder beleidigende Deutung meines Handelns besagt, ich sei so wankelmütig, dass ich mich je nach der Laune des Augenblicks bald auf diese, bald auf jene Seite schlage.
    Wahr ist (zur Enttäuschung derer, die mich kritisieren und schmähen wollen) weder das eine noch das andere. Ich hielt Luthers Ansichten für ketzerisch und gefährlich. Insgesamt genommen, führten sie in die Anarchie. Überdies waren sie eine Rebellion gegen Christus selbst, denn es war ja klar, dass Er die Kirche eingesetzt hatte.
    Meine Überzeugung war, dass die Kirche geläutert, aber nicht aufgelöst werden müsse. Und das ist es, was ich mit der Kirche in England auch getan habe. Es ist einfach! Warum machen die Leute das Einfache so kompliziert?
    Was nun meine Unterstützung für das Papsttum angeht: Meine eigene große Frage hatte mir noch nicht die Augen geöffnet. Was ich 1521 schrieb, schrieb ich in Aufrichtigkeit und im Rahmen der geistlichen Kenntnisse, die ich damals besaß. Mehr verlangt Gott von keinem Menschen. Dass einer später im Geiste reift, darf man nicht gegen ihn ins Feld führen.
    Eine von Luthers ketzerischen Behauptungen besagte, es gebe keine sieben Sakramente; die Kirche habe (aus geheimnisvollen, eigennützigen Gründen) fünf davon erfunden. Diese fünf aber seien die Ehe, die Priesterweihe, das Bußsakrament, das Sakrament der Letzten Ölung und das der Firmung. So bleibe nur die Taufe und die Eucharistie. Nach Luthers Interpretation war die Ehe ein juristischer Kontrakt; die Priesterweihe, meinte er, sei unnötig, da Priester keine besondere Macht besäßen; die Beichte sei etwas, das man vor Gott abzulegen habe, nicht vor einem Priester; die Letzte Ölung sei ein alberner Aberglaube, die Firmung eine überflüssige Wiederholung der Taufe. Christus habe nichts von all dem ausgeübt: Folglich habe er auch nicht gemeint, dass es zur Erlösung beitrage.
    Ich glaubte – nein, ich wusste –, dass Luther ganz und gar Unrecht hatte. Jedes dieser Sakramente versah uns mit göttlicher Gnade; ich hatte gefühlt, wie sie über mich kam, als ich sie empfangen hatte. Und ich fühlte mich berufen, ihm zu widersprechen, schriftlich, auf dass er nicht noch mehr Seelen in die ewige Verdammnis führe.
    Ich würde sämtliche Lehren Christi in diesen Fragen zusammentragen, und auch die Lehren aller Theologen und Kirchenväter von den Anfängen bis heute.
    Die Aufgabe erwies sich als ungeheuer. Mehr als vier Stunden täglich saß ich vor dieser Arbeit und plagte mich. Sie erforderte atemberaubende Kenntnisse der Theologie, wie ich bald herausfinden sollte. Ich hatte mir etwas auf meine Kenntnisse über Theologen und frühe Kirchenväter zugute gehalten, aber den genauen Text nach einem winzigen philosophischen Beweis durchzukämmen, war eine herkulische Arbeit. Nach und nach fühlte ich mich wie einer, der unter Toten lebte und sich nur noch mit den obskuren Ansichten von Männern befasste, die längst zu Staub geworden waren, und dabei die Lebenden und ihre bestürzend selbstsüchtigen Sorgen vergaß. Was war Wirklichkeit? Allmählich wusste ich es nicht mehr, und je länger ich zwischen zwei disparaten Welten hin und her pendelte, desto mehr verlor ich die Orientierung.
    In vieler Hinsicht empfand ich Behagen und Ruhe in der Welt des Geistes, auch wenn es der Geist von Toten war, denn ihre Gedanken, geläutert und

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