Ich, Heinrich VIII.
ndlich war das Buch fertig. Es war zweihundertfünfzig Seiten stark und ganz in Latein geschrieben. Ich war zufrieden. Erst jetzt zeigte ich es auch anderen, konfrontierte sie gleichsam mit einem fait accompli. (Man beachte, wie französisch ich geworden war: Ich dachte in französischen Floskeln auch außerhalb der Bezirke meiner Lust.) Thomas More und Wolsey und John Longland, dem Bischof von Lincoln, meinem Beichtvater, sowie Edward Lee, dem Canonicus von Lincoln, gab ich Abschriften. Und Wolsey, Longland und Lee sandten die ihren fast ohne Kritik und Korrekturen zurück, wohl aber mit Begleitbriefen voller Lobesworte.
Nur Mores Exemplar blieb aus. Drei Wochen, nachdem die anderen ihres zurückgeschickt hatten, hatte er es immer noch. Da wusste ich, dass er es wirklich las und dass er etwas daran auszusetzen hatte.
Kürzlich war es gelungen, More aus seinem privaten Dasein als Anwalt in London fortzulocken. In einer Verhandlung des Sternenkammergerichtes hatte er ein päpstliches Schiff verteidigt, das aufgebracht worden war, weil es nach dem Seerecht der Krone zugefallen war. Seine Verteidigung war so brillant gewesen, dass Wolsey, der die Sache der Krone vertreten hatte, sich unverzüglich darangemacht hatte, Mores Talente für seine eigenen Zwecke einzuspannen. Er bewog More, zunächst als Petitionsmeister in den Dienst des Hofes zu treten; dies bedeutete, dass er Bittschriften, die mir am Hofe oder auf den Staatsreisen gebracht wurden, entgegenzunehmen hatte. Ich hatte ihn dann zum Mitglied des Geheimen Staatsrates ernannt und ihm zu verstehen gegeben, dass er sich dem englischen Aufgebot auf dem »Feld des Goldenen Tuches« anzuschließen habe. Nach und nach war er so in das Leben am Hofe hineingezogen worden.
Als More das Manuskript schließlich zurückbrachte, bat er mich um eine Unterredung. Ich hätte ihn im Audienzsaal, auf meinem Thron sitzend, empfangen können. Aber ich zog es vor, von Mann zu Mann mit ihm zu sprechen, nicht als König und Untertan. Er sollte in mein Arbeitszimmer kommen, und es sollte dort ein warmes, freundliches Kaminfeuer brennen, nicht die Fackeln des Protokolls.
Er war älter geworden. Aber das war natürlich. Ein paar Jahre waren ins Land gegangen, seit ich ihm, kindisch auftrumpfend, das Astrolabium geschenkt hatte. Er war erwachsen gewesen, als meine Mutter gestorben war. Jetzt waren wir beide Männer, und die Dinge lagen anders. Ich brauchte ihm keine Geschenke mehr zu machen, um ihm zu beweisen, dass ich sein König und Meister war.
Er brachte das Manuskript in einer Schachtel.
»Ich hoffe, es gibt keine Änderungen«, sagte ich, »denn die Abschriften, die ich Seiner Heiligkeit präsentieren möchte, werden bereits angefertigt – von Mönchen natürlich. Die verstehen sich auf die Kalligrafie.«
»Nicht mehr so sehr«, murmelte er, und er überreichte mir die Schachtel. »Ich sehe nur einen einzigen Mangel. Ihr legt zu viel Gewicht auf die Autorität des Papstes. Vielleicht sollte man mit weniger Wucht davon sprechen.«
War das alles? Erleichterung überkam mich in Wellen.
»Luther hat sie so erbost attackiert, dass ich mich genötigt sah, ihr eine neue Stütze zu verleihen.«
»Ihr betont die Würde des Amtes im Übermaß«, sagte er. »Papst Leo wird unter dieser Bürde ins Wanken geraten, wenn er es liest. Er ist nicht der Mann, der sie zu tragen vermag. Noch, denke ich, vermag es sonst irgendein Mensch auf Erden, wie Ihr sie hier schildert.«
»Aber wie findet Ihr die Schrift im Ganzen?« Die Frage brach aus mir hervor.
»Ich finde« – er legte eine Pause ein –, »sie ist ein bewundernswertes Werk der Gelehrsamkeit. Ihr habt bei der Suche nach Zitaten ohne Zweifel größte Sorgfalt bewiesen …«
»Das Denken! Ich meine das Denken, die Analyse, die Deduktionen! Was ist damit?«
More wich zurück wie vor einem körperlichen Angriff. »Es ist jedenfalls überzeugend … und gründlich.«
Aber das sollte es natürlich auch sein – überzeugend, gründlich.
Plötzlich hatte ich keine Lust mehr, die Frage weiterzuverfolgen. »Bewundernswert« hatte er gesagt, »Sorgfalt«, »überzeugend«, »gründlich«. Widerstrebende Komplimente. Nicht eben die überschwänglichsten Akkoladen. Was er meinte, war »kompetent, aber nicht bewegend«.
Er hatte nichts Geniales darin gefunden.
Und was machte das? War er denn kompetent (wieder dieses Wort), dies zu beurteilen?
»Danke, dass Ihr Euch die Zeit genommen habt, es zu lesen«, sagte ich. »Ich werde Eure
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