Ich, Heinrich VIII.
Wort, an jeden Augenblick.«
Ich irrte mich. Ich erinnerte mich nicht »an jedes Wort, an jeden Augenblick«. Als Anne am nächsten Morgen den kurzen Weg vom Palast zur Westminster-Abtei unter einem von vier Rittern getragenen Baldachin zurücklegte, konnte ich mich nicht entsinnen, dergleichen je auch getan zu haben. Ich sah zu, wie sie die Abtei betrat, eine winzige Gestalt, von Kopf bis Fuß in einen hermelinverbrämten Purpurmantel gehüllt, und dann verschwand. Wenn ich die eigentliche Krönungszeremonie miterleben wollte, musste ich mich nunmehr an meinen geheimen Beobachtungsplatz in der Stephanskapelle (wo Cranmer sein privates Abschwörungsgelübde abgelegt hatte) zurückziehen, den ich dort eigens hatte einrichten lassen.
Jetzt, hoch oben auf dem vergitterten Balkon, blickte ich hinunter auf den grauen Steinboden, der von hunderten von menschlichen Juwelen übersät war. Anne allein war in Purpur gekleidet, der Farbe des Königtums. Einst war sie die Tochter eines einfachen Ritters gewesen, eine Gemeine wie nur irgendjemand dort unten auf den geheiligten Fliesen. Aber ich hatte sie gesehen, erhöht und zur Königin gemacht: Sie war mein Geschöpf.
Und jetzt stand der feierliche Augenblick bevor. Cranmer nahte sich in schleppendem Ornat und führte sie zum Hochaltar. Dort setzte man sie auf den uralten Krönungsthron.
Ja, daran erinnerte ich mich. Ich erinnerte mich an das harte, unbequeme Holz, und ich erinnerte mich, wie ich flüchtig an die barbarischen Häuptlinge gedacht hatte, die vor langer Zeit hier gekrönt worden waren, in Felle und Leder gekleidet und mit einem Schwert an der Seite, und die sich diesen roh behauenen Sitz der Königswürde nach ihrem Geschmack hatten zimmern lassen.
Und jetzt kehrten auch die Sinneserinnerungen zurück. Gerüche: der einschläfernde Weihrauch, der sich in Wolken ringsum erhob; der satte Duft von neuem Samt; der feuchte, saubere Dunst, der vom frisch geschrubbten Steinboden aufstieg. Geräusche: das Murmeln des Heiligen Salböls, als der Erzbischof es in die goldene Ampulla rinnen ließ; das weiche Tappen heiliger Füße auf kalten Steinplatten; der ferne Choralgesang, der bis weit hinten in die heilige Kapelle hallte, wo mein Vater und meine Mutter ihren marmornen Schlaf schliefen.
Stille hatte sich herabgesenkt. Der Augenblick der Salbung war gekommen. Das Klingen des Salblöffels an der Ampulla war deutlich zu vernehmen. Staunend schaute ich auf Anne hinunter. War ich so geschritten? Hatte so ich ausgesehen, als ich kniete? Hatten so die Kerzen mich umstanden? Warum konnte ich mich nicht erinnern?
Und plötzlich war Anne Königin. Es war vorüber. Was geschehen war, ließ sich nicht mehr ungeschehen machen. Aber warum dachte ich sogar in diesem Augenblick daran, es ungeschehen zu machen?
Das Krönungsbankett folgte unmittelbar darauf in der Großen Halle von Westminster Palace, wo wir uns einige Wochen zuvor zur Osternacht versammelt hatten. Tafeln mit fünfhundert Plätzen erwarteten die Krönungsgäste. Ich selbst würde durch ein Fenster in einem Nachbarraum zuschauen.
Aus luftiger Höhe betrachtet, hätten die mit weißem Linnen und goldenen Tellern und Bechern gedeckten Tische herrlicher nicht aussehen können. Und Anne würde endlich auf der Estrade am Kopf der königlichen Tafel sitzen, ohne dass ich dabei sein musste.
Und sie rauschte herein wie ein mächtiger Ausbruch der Natur. Nicht wie das zaudernde Nahen des Frühlings, sondern mit dem Krachen des Eises im Winter. Anne war hier!
Sie nahm ihren Platz ein, und sie überstrahlte sie alle, eine Säule von Purpur. Sie ließ sich auf ihren Stuhl sinken. Diener durchschwärmten die Halle, Becher blitzten, Teller voller Köstlichkeiten aus dem Füllhorn der Jahreszeit wurden allen gereicht. Die traditionellen »Champions«, die Schutzritter in ihren eisernen Rüstungen, ritten unter lautem Getrappel in der Halle auf und ab und forderten jeden heraus, der es wagen wollte, Annes Recht auf die Krone infrage zu stellen. Mit Schwert und Schlachtross würden sie jeden Unzufriedenen aus dem Felde schlagen.
Ein altmodischer, hübscher Brauch. Was vermochten sie gegen die mürrisch schweigende Menge, die gestern die Londoner Straßen gesäumt hatte? Genau wie der Krönungsthron gehörten auch die Champions in eine andere Zeit der Menschheit.
Mein Blick wanderte durch die Halle und fiel auf Thomas Mores Stuhl. Er war leer.
Es war spätnachts, als Anne und ich uns wiedersahen. Sie erschien mir genauso wie
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