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Ich, Heinrich VIII.

Ich, Heinrich VIII.

Titel: Ich, Heinrich VIII. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret George
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sich darauf vor, die ganze Nacht zu wachen, ehe sie am nächsten Morgen zu Rittern des Bath-Ordens ernannt werden würden. Der Rest des Hofes schmauste in der Halle des White Tower. Und überall waren Blumen – Girlanden und Blütenblätter bedeckten jeden Stein. Glasscherben funkelten am Boden; das Dröhnen der Kanonenschüsse hatte etliche Fensterscheiben zerspringen lassen. Über all dem Wirrwarr schwebten Saitenklänge.
    »Geh mit mir spazieren«, bat sie. »Ich brauche diese Nachtluft.«
    Erfreut nahm ich sie bei der Hand. »Deine Wangen glühen«, sagte ich.
    Draußen, im schimmernden Zwielicht der Maiennacht, schien der White Tower zu leuchten.
    »Ah.« Sie tat einen langen, erschauernden Seufzer. Dann plötzlich: »Was ist mit More?«
    Ein Stich fuhr mir durchs Herz. »Ich habe ihm zwanzig Pfund geschickt; davon sollte er sich für die Krönung ein neues Gewand kaufen. Er hat mir das Geld nicht zurückgeschickt.«
    Das schien sie zufrieden zu stellen. »Und Maria?«
    Ein zweiter Stich am selben Ort. »Meine Schwester liegt schwerkrank zu Westhorpe.«
    »Sie hat mich immer gehasst!«
    Das stimmte. Maria hatte mich angefleht, nicht auf dieser »Narretei« mit Anne zu beharren. Ebenso gut hätte sie den Regen bitten können, auf halbem Wege im Fallen innezuhalten. »Deshalb ist sie aber nicht krank«, stellte ich in gleichmütigem Ton fest.
    »Ich bestehe darauf, dass sie kommt und mir die Ehre erweist, sobald sie genesen ist.«
    Ihre Kleinlichkeit war ein Makel in der Nacht, und alle Pracht verging für mich. So gingen wir einige Augenblicke schweigend dahin. Plötzlich äußerte Anne den Wunsch, in die kleine Tower-Kapelle zu gehen und dort zu beten.
    »Nein!« Ich hielt sie auf. »Nicht in der Johanniskapelle. Dort – dort bereiten sich die Ritter auf ihre Nachtwache vor.« Dort hatte auch meine Mutter aufgebahrt gelegen, dreißig Jahre zuvor, umgeben von tausenden von glimmenden Kienspänen. Ich wollte nicht, dass Anne vor ihrer Krönung dort betete.
    »Aber ich muss beten!«, beharrte sie. Ihr Gesicht sah angespannt und eifrig aus, verwundbarer, als ich es je gesehen hatte. Und auch anders.
    »Du sollst ja beten«, sagte ich. »Aber in einer anderen kleinen Kapelle. In St. Peter ad Vincula.«
    »Wird dort auch das Sakrament aufbewahrt?«
    »Immer.«
    Ich führte sie zu dem kleinen Steingebäude, das einsam und dunkel am hinteren Rande der warmen Nachtgeräusche und des Lichtes stand. Sie zögerte.
    »Ich komme mit und zünde dir eine Fackel an«, sagte ich.
    Ich stieß die verzogene Holztür auf, die ins hallende Innere führte. Ein einzelnes Flämmchen flackerte auf dem Altar zum Zeichen der heiligen Gegenwart einer geweihten Hostie.
    Ich entzündete eine große Kerze, die neben der Tür auf dem Boden stand, und berührte Anne bei der Schulter. »Bete in Frieden.«
    »Danke«, sagte sie. »Und Dank auch, dass du mich nicht belächelt hast.« Ich wusste, was sie meinte: Wer einen ehrlichen Drang nach Frömmigkeit äußert, riskiert den Spott der anderen.
    »Bete für mich«, bat ich sie.
    Der erste Juni. Um Mitternacht war der verwunschene Mai dem Sommer gewichen, und Annes Prozession durch die Straßen von London war politische Realität. Würde die Stadt sie willkommen heißen? Das Spektakel auf dem Wasser tags zuvor war hübsch anzusehen gewesen, aber Lautenmusik, Kanonendonner und Feuerwerk hatten alles Johlen überdeckt, und wer unzufrieden war, hatte sich nicht erst die Mühe gemacht, mit Booten hinauszufahren.
    In den Straßen war es anders: Sie waren kürzlich erst verbreitert und mit Kies bestreut worden, und an jeder Ecke erhob sich ein »Prunkgerüst« – eine offene Einladung für jeden Unruhestifter.
    Gewiss, der Bürgermeister war gewarnt, und am Tage zuvor hatte er sich jedenfalls wacker geschlagen, aber das Pack hatte auch er nicht in der Hand; das wusste er, und ich wusste es auch, trotz meiner Drohungen gegen »Verräter«. Der Gedanke, zweihundert königliche Konstabler könnten unter hunderttausend Londonern irgendeine Art von Disziplin aufrechterhalten, war absurd. Heute musste Anne hinausreiten und auf den guten Willen der Leute vertrauen – und auf Gott.
    Ich schaute zur Sonne; schon stand sie als grelle, heiße Kugel am klaren Himmel. Das zumindest war ein günstiges Zeichen. Wenn ich die höchsten Bastionen des viereckigen White Tower erklomm, konnte ich gen Westen über ganz London hinwegsehen; von dort musste Anne zur Westminster-Abtei herüberkommen. Schon waren die Straßen

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