Ich, Heinrich VIII.
streckte die offene Hand aus.
Er erkannte meine von Gott verliehene geistliche Führerschaft an! Was konnte diese Geste sonst bedeuten? Wie feinsinnig von More! Dann würde der Rest ein Kinderspiel sein, und der Abend konnte doch noch angenehm verlaufen.
»O Gott«, begann ich, »segne diese Gemeinschaft derer, die einander lieben in der Einmütigkeit des Herzens und der Seele. Mögen unsere Worte und Taten und innersten Wünsche Dir wohlgefällig sein. Erfülle uns mit dem Heiligen Geiste, auf dass wir stets die Wahrheit sprechen und nach Deinem Willen tun.«
Wir alle bekreuzigten uns. Ich blickte auf. Mein Gebet hatte die Atmosphäre ganz und gar nicht gelöst – im Gegenteil, alle wirkten jetzt noch steifer.
»Eure Majestät«, sagte Lady Alice, »heute ist Freitag und Fastentag, und so habe ich die festlichsten Speisen bereitet, die unter diesen Umständen erlaubt sind.« Sie läutete ihr Glöckchen, und das Dienstmädchen erschien mit einer großen Suppenschüssel.
»Lauchsuppe«, sagte sie und stellte die Schüssel dabei behutsam auf den kleinen Tisch.
»Der Lauch ist ein walisisches Wahrzeichen, nicht wahr, und Eure Majestät stammen doch aus Wales?« Es war Margaret More Roper, die dies sagte.
»Sprecht Ihr Walisisch?«, fragte ihr Gemahl plötzlich; es war das erste Mal, dass er das Wort ergriff.
»Ja … ein wenig. Ich habe es von meinem Vater gelernt.« Seltsam, das hatte ich vergessen. Vergessen, dass er mit mir Walisisch gesprochen hatte, als ich ein Kind gewesen war. Ich konnte mich überhaupt kaum daran erinnern, dass er mit mir gesprochen hatte.
»Lauchsuppe heißt cawl cennin«, sagte ich. »Meist schmeckt sie noch besser, wenn man sie wieder aufwärmt. Dann heißt sie cawl ail dwym.« Die keltischen Worte bewirkten, was mein formelles Gebet nicht vermocht hatte: Sie segneten uns, verliehen uns Eintracht. Ein Wunder.
»Habt Ihr je den Wunsch, Wales zu besuchen?«, erkundigte sich Thomas.
»Ja. Es sind seltsame Leute dort, und doch bin ich ein Teil von ihnen. Manchmal habe ich das Gefühl, meine besten Eigenschaften habe ich von ihnen: meine Musik und meine Liebe zur Dichtkunst.«
Und die schlimmsten ebenfalls, dachte ich bei mir: die schwarzen Launen, die Melancholie, das merkwürdige Heimweh, das ich verspüre, wo immer ich mich aufhalte.
»Wollt Ihr sie zu einem Teil Englands machen?« Lady Alice war unverblümt wie immer.
»Sie sind ein Teil Englands«, erwiderte ich. »Daran können sie ebenso wenig ändern wie ich. Es ist günstiger für alle Beteiligten, sich unter dem Dach einer einzigen Regierung vereinigt zu wissen.«
Die Lauchsuppe war nahrhaft und sättigend. Genussvoll füllte ich mir den Bauch damit; aber noch mehr genoss ich das freimütige, liebevolle Tischgespräch.
»Und nun zu meiner Leibfastenspeise«, verkündete Thomas. »Ein Bußgericht ist es vielleicht nicht, denn ich liebe es so sehr.« Fröhlich läutete er die Glocke. Ich sah, dass er sich wirklich auf den nächsten Gang freute.
»Eine Aal- und Zwiebelpastete.«
Ein prachtvoller Kasten aus verziertem Backteig wurde aufgetragen.
More ergriff das Messer und brach den goldbraun glasierten Deckel auf. Eine dicke Dampfwolke quoll hervor, und dann sah ich saftige Aalstücke, die in einer Sauce aus Butter, Rosinen und Milch schwammen. Dazu gab es eine Schüssel mit reichlich gekochtem Knoblauch.
Das alles war herrlicher als jedes königliche Bankett. Und bis heute weiß ich nicht, warum. Freilich, More hätte eine Erklärung gewusst: Christus war am Tisch zu Gast – wie ja die Israeliten bei ihrem Passah-Mahl immer einen Platz für Elias freihalten.
Nach dem Abendessen – einen Nachtisch gab es wegen des Fastentages nicht – begaben wir uns geradewegs in die Halle zur Komplet.
Die Komplet war, streng genommen, ein klösterliches Ritual. Nicht einmal Katharina hielt sie je ab, obgleich sie das Gelübde des Dritten Ordens des heiligen Franziskus abgelegt hatte. Aber More war schließlich einmal Novize bei den Kartäusern gewesen; er hatte dem Orden nur entsagt, weil er meinte: »Besser ein keuscher Gatte als ein ausschweifender Priester.« Wie bei so manchem, der zwei Herren gedient hatte, war aber der erste nie ganz in Vergessenheit geraten.
Das Feuer brannte herunter. More ließ Kienspäne bringen, damit er die Andacht lesen könne. Mir bot er den Ehrenplatz an, doch ich lehnte ab; ich wollte ihn gern in seiner gewohnten Rolle sehen.
Ich wollte ihn so gern kennen lernen. Ihn wirklich kennen lernen.
Als
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