Ich, Heinrich VIII.
Erstes kam die Ermahnung. »Brüder, seid nüchtern und wachsam«, las er.
Es folgte stille Meditation. Dann das Sündenbekenntnis:
»Ich bekenne Gott dem Allmächtigen, der seligen, allzeit reinen Jungfrau Maria, dem heiligen Erzengel Michael, dem heiligen Johannes dem Täufer, den heiligen Aposteln Petrus und Paulus, allen Heiligen und Dir, Vater, dass ich viel gesündigt habe in Gedanken, Worten und Werken, durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld. Darum bitte ich die selige, allzeit reine Jungfrau Maria, den heiligen Erzengel Michael, den heiligen Johannes den Täufer, die heiligen Apostel Petrus und Paulus, alle Heiligen und Dich, Vater, für mich zu beten bei Gott, unserem Herrn.«
Dann Psalm 133: »Ecce nunc benedicite Dominum.
Siehe, wie schön und wie lieblich ist es, wenn Brüder friedlich beisammen wohnen! Wie feines Öl auf dem Haupte, das niederrinnt in den Bart, ja, in Aarons Bart, der hinabreichte bis zum Saum seiner Kleider. Wie der Tau des Hermon, der auf die Zionsberge niederrinnt; denn dort entbietet der Herr den Segen, das Leben für immer.«
Das Feuer erlosch, als More verstummte. Ich fühlte mich umarmt, von Gott, von dieser gesegneten Familie, vom Augenblick, von diesen Worten.
»Und jetzt zu Bett.« Lady Alice brach den Bann.
»Mit Ausnahme der Mondgucker.« Margaret lächelte mich an.
»Margaret hatte einmal Gefallen an der Astronomie gefunden«, erzählte More. »Aber als ich ihr immer wieder den Unterschied zwischen der Sonne und dem Mond erklären musste …«
»Ich habe nie etwas von Astronomie verstanden«, pflichtete Margaret ihm bei. »Sie war mir immer ein Buch mit sieben Siegeln.« Sie schaute in die Runde. »Ich muss ins Bett. Vater hat Recht.«
Auch Lady Alice zog sich zurück. Schließlich waren Thomas More und ich ganz allein. Wie ich es mir gewünscht, ja, erträumt hatte.
»Zeigt mir Euer Geheimnis«, bat er. »Ich brenne darauf, zu sehen, was Ihr mitgebracht habt.«
Vorsichtig öffnete ich den mit Samt ausgeschlagenen Holzkasten. Darin befand sich ein Satz gläserner Linsen sowie ein Brett, auf dem sie in eine Reihe von Löchern gesteckt werden konnten.
»Wenn man sie auf eine bestimmte Weise hintereinander steckt und ausrichtet, holen sie die Dinge näher heran – ich weiß nicht, wie. Mein Brillenmacher hat mir dieses Wunderwerk gezeigt. Wenn ich damit spiele, sehe ich Gegenstände, die sich am anderen Ende des Zimmers befinden, als wären sie nur eine Armlänge weit entfernt. Ich muss gestehen, dass ich es mit den Sternen noch nicht versucht habe. Aber vielleicht heute Abend?«
»Ja! Ja!« Es klang ehrlich interessiert. Er nahm eine der Linsen heraus und studierte sie.
»Ich habe sie mir von meinem Brillenmacher schleifen lassen«, berichtete ich. »Ich muss mich leider seit einer Weile mit dem Tragen von Augengläsern behelfen.« Ich trug solche, die man als »Vierzig-Jahr-Brille« bezeichnete. Es gab auch »Fünfzig-Jahr-Brillen«, »Sechzig-Jahr-Brillen« und so weiter.
»Es dauert noch ein Weilchen, ehe die Eklipse beginnt. Wir wollen sie einstellen, bevor es noch kälter wird, um zu vermeiden, dass sie beschlagen.« Er erhob sich und raffte seinen düstergrauen Wollmantel um sich.
Er geleitete mich hinaus auf die kleine Wiese hinter seinem Hause. Mit jedem Atemzug roch man den scharfsüßen Duft, welcher den Frühling verhieß.
Die Wiese stieg mählich zu einem kleinen Hügel an. More griff zu einer Fackel und führte mich hinauf. Erst als ich näher kam, sah ich im Fackelschein, dass da noch etwas stand. Und während mein Blick das Gerüst abtastete, drang mir der Geruch von neuem, geöltem Holz in die Nase.
More streckte die Hand aus. »Eine Mond-Beobachtungs-Plattform«, sagte er. »Die Chinesen, so höre ich, nennen alle ihre Balkone so, und daran tun sie recht.«
Er hatte es für mich gebaut. Weil ich zu Besuch kam. Obgleich er in so ärmlichen Verhältnissen lebte, hatte er sich doch bemüßigt gesehen, mir diese Ehre zu erweisen und meinen Wünschen entgegenzukommen …
Ich erklomm die Stufen zu dem kleinen, von einem Geländer umgebenen Podest.
»Ich habe es auf den höchsten Punkt meines Grundstücks gestellt«, sagte er.
»Ihr habt dies … für meinen Besuch gebaut? Aber das Holz, und die Löhne für die Zimmerleute …«
»Ich habe es eigenhändig gebaut«, sagte er. »Darum ist es ja so schief …« Er lachte. »Ich hoffe, unser Rechentisch steht fest.«
Keine Feierlichkeiten, niemand, der uns störte
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