Ich, Heinrich VIII.
Räume, in denen sie auch die Nacht vor ihrer Krönung verbracht hatte. Dort sollte sie bleiben, allein und ohne eine freundliche Seele in ihrer Nähe. Wo in jener Maiennacht drei Jahre zuvor Sänger und Schmeichler gewesen waren, da waren jetzt Stille und Ratlosigkeit.
»Wo ist mein lieber Bruder?«, weinte sie.
»Ich habe ihn in York Place gelassen«, antwortete Kingston. In Wahrheit war George Boleyn schon am Morgen in den Tower gebracht worden.
»Ich höre, dass man mir fünf Männer zur Last legt, und ich weiß nicht mehr zu sagen als Nein, ohne meinen Leib offen zu legen«, rief sie und riss sich dabei hysterisch das Kleid auf. Aber niemand verstand den Sinn dieser Worte.
»Oh, Norris, Ihr habt mich angeklagt?«, fragte sie ins Leere. »Auch Ihr seid nun im Tower, und wir werden zusammen sterben, Ihr und ich; und Mark – auch Ihr seid hier!«
Als der König vernahm, wie sie ihren Bruder und Norris und Smeaton rief, da weinte er.
Cromwell kannte die Königin gut. Er wusste, sie war »tapfer wie eine Löwin«, wie jemand sie einmal beschrieben hatte, aber auch eine Löwin braucht einen Gegner. Ohne einen Gegner, ohne einen klar umrissenen Ankläger, würde sie in ihrer Panik plappern und sich schließlich selbst verraten. Er gab Anweisung, jedes ihrer Worte aufzuzeichnen. Anne Boleyn hatte nie verstanden, zu schweigen. Cromwell, der schon ihre Reden von dem »Verlangen nach Äpfeln« gehört hatte, wusste diese fatale Schwäche zu nutzen.
Schon am ersten Tag brachte er reiche Ernte ein. Sie entsann sich ihres Gespräches mit Weston, in dem er ihr seine Liebe gestanden hatte, und verglich ihn mit Norris. »Weston fürchte ich mehr«, sagte sie und erklärte auch, warum.
Am Tag darauf kam sie zu ihrem Bruder. Ihre Spitzel hatten ihr gesagt, dass er verhaftet worden sei.
»Ich bin sehr froh, dass wir so nah beieinander sind«, sagte sie.
Kingston bestätigte, dass fünf Männer ihretwegen verhaftet worden seien und nun im Tower lägen.
»Mark behandelt man am schlimmsten«, fügte eine der Frauen hinzu. »Er liegt in Eisen.«
»Das kommt, weil er kein Edelmann ist«, sagte Anne gefühllos. Sie sah sich um. »Man wird jetzt Balladen über mich singen«, sagte sie verträumt. »Aber es ist nur noch mein Bruder da, der es kann. Soll er sterben?«, fragte sie Kingston.
Als dieser ihr die Antwort verweigerte, verlegte sie sich auf Drohungen. »Es wird nicht mehr regnen, ehe ich den Tower verlassen darf!«, rief sie.
Kingston zuckte darob ungerührt die Achseln. »Ich hoffe, es dauert noch ein Weilchen, denn so haben wir schönes Wetter«, versetzte er.
Unterdessen tobte und schrie der König. Er benahm sich wilder als Anne. Am Abend, nachdem Anne in den Tower gebracht worden war, kam sein leiblicher Sohn Heinrich Fitzroy, um ihm eine gute Nacht zu wünschen. Der verstörte, trauernde König packte ihn bei den schmalen Schultern und rief: »Gott sei gepriesen, da du jetzt sicher bist vor dieser verfluchten und giftigen Hure, die entschlossen war, dich zu vergiften!«
Der verblüffte, hustende Fitzroy nahm ihn nur stumm in seine Arme: Der Sohn tröstete den Vater.
Dann senkte sich gespenstische Stille herab. Die Königin und alle, die man bezichtigte, ihre Liebhaber und Mitverschwörer gewesen zu sein, saßen hinter den steinernen Mauern des Tower. Geschworenengerichte wurden zusammengerufen, förmliche Anklageschriften verfasst. Das Parlament wurde vertagt und sollte erst in einem Monat wieder zusammentreten. Auf Befehl des Königs durfte keine Post und kein Schiff England verlassen. Die Welt draußen fragte sich, was hier vorgehen mochte. Man wusste, es musste furchtbar und folgenschwer sein.
Heinrich VIII.:
Dann bekam ich Briefe. Erst von Cranmer; er schrieb voller Verwunderung und Mitgefühl:
Und ich bin so perplex, dass ich es schier nicht zu fassen vermag; niemals hatte ich eine bessere Meinung von einem Weibe denn von ihr; weshalb ich denke, dass sie womöglich nicht schuldig ist. Hinwiederum denke ich auch, Eure Hoheit wären nicht so weit gegangen, wäre sie nicht gewisslich schuldig.
Nun denke ich, dass Euer Gnaden am besten wissen, dass ich neben Euer Gnaden am engsten mit ihr verbunden war von allen Lebewesen auf Erden. Weshalb ich Euer Gnaden in aller Demut bitte, mir zu erlauben, dass ich tue, wozu ich durch Gottes Gesetz, Natur und auch durch ihre Güte verpflichtet bin: Nämlich, dass ich mit Euer Gnaden Huld bete für sie, auf dass sie ihre Unschuld und Ehrbarkeit erkläre. Sollte sie
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