Ich, Heinrich VIII.
seine offenkundige Neigung zu den Protestanten auf dem Kontinent, seine seltsame Nachsicht gegen Ketzer und Reformer, sein Zögern, der »sechsschwänzigen Peitsche« Geltung zu verschaffen, das gar nicht seiner sonstigen Art entsprach, und seine entschlossenen Manöver zur Herbeiführung meiner Heirat mit dem Hause Kleve.
Aber ich schwebte in diesem menschlichen Zwiespalt: Ich mochte den Mann, obwohl ich wusste, dass er schlecht war. Es fehlte mir an Mut, meiner Intuition entsprechend zu handeln und einfach … Schluss zu machen mit Cromwell. Meine Regierung von seiner Anwesenheit zu befreien. Immer sagte ich mir: »Beim nächsten Mal … beim nächsten Mal werde ich es tun …« Und doch ging er jedes Mal wieder als freier Mann aus meinem Gemach, bekleidet mit seiner gewohnten Macht. Macht, die ich unbedingt widerrufen musste. Beim nächsten Mal.
So. Jetzt würde es geschehen. Daran zweifelte ich nicht. Ich hatte ihn geängstigt, und ein geängstigter Cromwell war ein zuverlässiger Diener. Er würde den Knoten zwischen mir und Anna auflösen. Aber ich war sehr zufrieden mit meinem Entschluss, ihr einen Platz in meiner Familie anzubieten. Freilich, dergleichen war noch nie da gewesen, aber das galt für unsere ganze Beziehung. Wenn Kleve so langweilig war, wie es den Anschein hatte, würde Anna sicher nicht den Wunsch haben, dorthin zurückzukehren.
Meine Zufriedenheit war so tief wie seit Jahren nicht mehr, ich ging ein wenig auf und ab und versuchte zu verstehen, warum.
Natürlich. Ich bekam etwas, das nur wenigen Menschen je zuteil wird: die Gelegenheit, mein Leben noch einmal zu leben und alles ganz anders werden zu lassen. Was war Anna von Kleve anderes als eine zweite Katharina von Aragon – eine ausländische Prinzessin, der ich kein Mann sein konnte? Nur brauchte ich diesmal nicht Jahre mit dem Trachten nach päpstlicher Billigung zu vergeuden; ich brauchte nur zu Cromwell zu sagen: »Tut es«, und es würde getan werden. Und statt an ausländische Fürsten zu appellieren und sich an ihre »Rechte« an mir zu klammern, würde Anna sich fügen, und wir würden Freunde bleiben.
Und Catherine Howard! Sie war Anne Boleyn, ehe sie hart und herzlos und verdorben geworden war. Durch ein großes Wunder (denn wer kann Gottes Gedanken verstehen?) hatte ich Gelegenheit zu einem zweiten Versuch.
An diesem Abend sollte ich mit Anna speisen, wie fast immer donnerstags abends; es waren ausgedehnte Mahlzeiten vor einem kräftigen Feuer. Auch diesmal wurde ich nicht enttäuscht.
Anna begrüßte mich liebevoll in der Tür ihres Gesellschaftszimmers und deutete auf ein Brett, das vor dem offenen Fenster in der sommerlichen Dämmerung aufgestellt war. Mein gewohnter Stuhl, mit samtenen Kissen wohl gepolstert, stand davor.
»Ein neues Spiel?«, fragte ich. Wie sie Spiele liebte!
»Ja!« Sie strahlte. »Es heißt ›Krieg‹.« Auf das Brett war ein Feld gemalt, das Trichterform hatte – schmal an einem Ende, breit am anderen. An der Seite standen geschnitzte Pferde und Männer, und hölzerne Münzen in verschiedenen Farben lagen auch da.
»Bitte erklärt es mir.«
»Ah, ja. Nun«, begann sie in ihrem wunderlichen Englisch, »man nimmt sein Einkommen aus den Klöstern, aus der Neuen Welt, den Banken – aus der Wollproduktion und all diesen Dingen, und dann kauft man Männer damit, das heißt, Soldaten, und – diese Nationen führen Krieg miteinander.«
Es war ein ausgeklügeltes, verzwicktes Spiel um die Einkommensquellen zehn verschiedener Länder und ihre nationalen Ziele. Je nachdem, in welche Kanäle das Geld geleitet wurde, konnte das Ergebnis ungeheuer unterschiedlich ausfallen.
Als die Uhr Mitternacht schlug, hatte ich England in einen scheußlichen Krieg mit Frankreich verwickelt, während der Kaiser zusammen mit Schottland abwartend am Rande stand und der Papst gewaltige Ländereien einheimste.
»Lasst es so stehen!«, mahnte ich. »Ich will dieses Spiel zu Ende bringen und sehen, was dabei herauskommt.«
Sie lachte. »Ich bin froh, dass es Euch so gefällt.«
»Wo habt Ihr es gefunden?«
»Ich habe es erfunden.«
Mir verschlug es die Sprache. »Ihr? Ihr habt es geschaffen?«
Sie war brillant! Eine Mathematikerin, eine Finanzexpertin, eine Strategin. Oh, warum war sie eine Frau? Der arme Wolsey. Hätte er nur ein Drittel von dem begriffen, was sie beherrschte.
»Ihr habt Talent, Prinzessin. Könnte ich Euch doch zur Schatzkanzlerin machen. Oder zur Kriegsministerin.«
»Und warum nicht?«,
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