Ich, Heinrich VIII.
Ihr an den Hof kommen konntet.«
»Ich bin Eurer Majestät dankbar für die Einladung«, sagte sie mit einer Neigung ihres Kopfes. So gingen wir auf zivilisierte Weise über die »delikate Angelegenheit« hinweg. Ihr alter Ehemann, Lord Latimer, war ein konservativer Katholik aus dem Norden gewesen, ein Sympathisant der Pilger. Meine Einladung an seine Witwe bedeutete, dass ich ihr die verräterischen Neigungen ihres verstorbenen Gatten nicht zur Last legte.
Ich sah sie an. Ihr golden-rotes Haar, dessen Ansatz wie ein Dreieck in die Stirn ragte, war säuberlich unter ein strenges schwarzes Häubchen gebunden. Aber ihr Antlitz war rosenwangig und fröhlich – ein rechter Gegensatz zu ihrem asketischen Sinn. Dabei war sie erst neunundzwanzig. Wie kam es, dass eine Frau das Alter ihres Mannes anzunehmen schien? Wieso hing die Tatsache, dass die Witwe Latimer mit zwei alten Männern verheiratet gewesen war, ihr so an und färbte den Eindruck, den sie auf den Betrachter machte? Sie selbst war doch gewiss nicht alt. Aber dann hörte ich sie mit Katherine Brandon sprechen, und da wusste ich den Grund.
»… aber da Unser Herr ja durch die Passion genötigt war, Seine Vergebung für den Augenblick auf diejenigen in Seiner nahen Umgebung zu beschränken – das heißt, Er verzieh ja explizit dem Schächer, der neben Ihm am Kreuze hing, und Er vergab ausdrücklich seinen Henkern, die um Seinen Rock würfelten – ›Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun‹ –, Er sagte nicht überdies: ›Auch dir, Pilatus, und dir, Kaiphas‹, wenngleich Er sie in Seinem Herzen gewiss einschloss …«
War das ihre Festtagsplauderei? Wie redete sie dann, wenn sie ernsten Sinnes war?
»Madam Latimer, Ihr seid mir längst nicht fröhlich genug«, schalt ich sie. »Am Feste der Geburt Unseres Herrn, da Er als Kind und Geschenk Gottes an die Menschheit zur Welt kam, ist es doch wohl morbid, vom bevorstehenden Verrat und von Seinem Tod zu sprechen.«
Ihre dunklen Augen tanzten vor Erregung. Die Theologie also war es, was ihre Leidenschaft entflammen konnte. »Ah, Eure Majestät! Aber es ist alles eins – das ist ja das Vollkommene, das Geheimnisvolle daran. Die Könige brachten Weihrauch und Myrrhe – die Schatten Seines zukünftigen Todes und seines Begräbnisses. ›Maria nahm all diese Dinge und betrachtete sie in ihrem Herzen.‹ Sie betrachtete sie, sie frohlockte nicht und sie sang nicht; nein, es war eine schwere Bürde. Ich habe mich oft gefragt«, fuhr sie verträumt fort – wie Culpepper, wenn er ein Stück besonders feinen Samt streichelte –, »was Maria mit dem Gold, dem Weihrauch und der Myrrhe getan hat.«
Mir fiel auf, dass sie nicht »Unsere Liebe Frau« oder »die Selige Jungfrau« sagte.
»Ob sie alles in einen Schrank zwischen ihr Linnen legte, um es manchmal, selten und sicher auch zufällig, anzuschauen, wenn sie ihre gewöhnlichen Arbeiten an einem gewöhnlichen Tag getan hatte und darauf wartete, dass Joseph von der Arbeit nach Hause käme? Und ob sie es dann berührte und das Wunder von neuem fühlte – gleichsam eine eigene Epiphanie erlebte?« Die Witwe Latimer war die unerhörteste Schwärmerin, die ich je gesehen hatte, aber ihre Schwärmerei galt nur dem Unbekannten, Unsichtbaren.
»Zweifellos hat sie das Gold und die Kräuter verkauft, um die Reise nach Ägypten zu bezahlen.« Das war Elisabeth in ihrer praktischen Art. Aber wieso saß Elisabeth unter diesen intellektuellen Matronen? Was zog ein Kind hierher? Hatte sie solche Sehnsucht nach einer Mutter? »Das Gold wäre schließlich zu schwer gewesen, als dass sie es hätte mitnehmen können, und die exotischen Kräuter hätten viel zu viel Aufmerksamkeit erregt. Hätten sie die aber in Bethlehem verkauft, wäre Herodes womöglich aufmerksam geworden. Deshalb warteten sie damit wahrscheinlich, bis sie in Ägypten waren. Die Ägypter waren in solchen Dingen sicher blasierter.«
Die Frauen sahen sie an und nickten dann. »Was das Kind sagt, stimmt«, bestätigte Lady Herbert.
Elisabeth lachte. »Die Heilige Familie bestand aus Menschen, die dachten wie andere Menschen.« Sie wandte der Witwe ein arglos lächelndes Gesicht zu. »Würdet Ihr irgendwann die Güte haben, meine Übersetzung der ›Sprüche‹ anzuschauen? Ich versuche, sie ins Griechische zu übersetzen.«
Die Witwe nickte geschmeichelt.
Charles’ Frau, die Herzogin, zog ein Büchlein mit Gebeten hervor. »Dies habe ich als sehr hilfreich empfunden.« Die anderen
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