Ich, Heinrich VIII.
dass ich zum Fenster blickte und dachte, wie still und überaus langweilig ein Tag gegen Ende Februar doch sein konnte. Die Farbe des Himmels war ein hässlicher, neutraler Abkömmling von Grau und Weiß, und all die nackten Äste starrten regungslos. Die Sonne war nirgends zu entdecken; Wolkendecken hatten sie ganz verhüllt. Die Fastenzeit nahte, die ödeste Zeit des Jahres. Die Welt war entkräftet.
Da plötzlich packte eine intensive, quetschende Hitze mein Gehirn. Ich öffnete den Mund, um aufzuschreien, und konnte es nicht. Ich merkte, dass ich vornüber kippte. Der glänzend blanke Intarsienboden raste herauf, mir entgegen, um mir das Gesicht zu zerschlagen – aber ich fiel, und ich war unfähig, die Arme auszubreiten, um meinen Sturz zu federn. Ich fiel wie ein gefällter Baum im Walde und zerschlug allerlei ringsumher – den kleinen Tisch mit meiner Lesebrille und dem Psalmenbuch an meinem Bett, den großen Zimmerleuchter mit den drei geschnitzten Füßen. Ich schlug auf, erwartete Schmerz, fühlte nichts. Meine Nase wurde zerdrückt, und ich sah, dass das Blut zu fließen begann. Ich wollte fortkriechen, mich hochstemmen, aber ich war gelähmt. Und dann begann ich zu würgen und konnte mich doch nicht räuspern. Ich ertrank in meinem eigenen Blut. Heiß und salzig rann es mir in die Lunge, und ich bekam keine Luft mehr.
Jemand hob mich hoch, zog meine Schultern zurück, und ein schimmernder Schwall von Blut ergoss sich aus meinem Mund. Ich erinnere mich an dieses Rot, so viel heller als Rubine. Dann verflog alles Helle, und ich wusste nichts mehr.
Wie lange ich nichts wusste, kann ich nicht sagen. Als ich erwachte – wenn ich es so nennen kann –, lag ich auf meinem Tagesbett. Ringsum häuften sich Kissen und Pelze, und ich lag offenbar schon seit geraumer Zeit hier. Ein erbostes Feuer spie und gurgelte im nahen Kamin und erstickte fast unter einem Übermaß an Holz. An meiner Position erkannte ich, dass man mich dicht davor gelagert hatte, damit ich in den Genuss seiner Wärme kam. Ich strich über den Pelz meiner Decken an der dem Feuer zugewandten Seite. Es war zu heiß dort. Der Pelz würde angesengt werden. Ich machte eine Gebärde.
Erst da begriff ich, was dies bedeutete. Mein Körper war wieder frei. Er gehorchte meinen Befehlen. Ich strich noch einmal über den Pelz, fühlte die glatte Oberfläche, nur um mich selbst auf die Probe zu stellen. Aber der Pelz wurde beschädigt. Sie sollten mich ein Stück weiter wegrücken.
Aber wer waren »sie«? Ich war allein im Zimmer. Ich konnte niemanden sehen, der sich etwa in den Schatten herumdrückte. Gut. Das an sich war ein günstiges Zeichen. Man rechnete nicht damit, dass ich sterben würde. Ich dachte an die Scharen von »Beobachtern« im Gemach meines Vaters in jenen letzten paar Wochen seines Lebens. Gütiger Jesus! Es war die gleiche Jahreszeit! Er hatte sich im Januar ins Krankenbett gelegt, hatte, vom Husten geschüttelt, den Februar und den März überstanden und war im April gestorben.
Plötzlich war es sehr wichtig, dass ich mit jemandem redete. Ich rief.
Kein Laut kam aus meinem Munde.
Meine Kehle war geschwollen, verstopft vom langen Schweigen. Ich räusperte mich, ließ alle Membranen rasseln. Jetzt! Ich rief.
Stille.
Ich war stumm! Gott hatte mir die Sprache genommen.
Ich spannte meine Muskeln an. Und wieder – Stille.
Ich war so entsetzt, dass ich mich nur kraftlos in die Kissen zurücksinken lassen konnte.
Es durfte nicht für immer sein. Bestimmt verzögerte sich nur ein Teil meiner Genesung. Als ich gestürzt war, hatte ich zunächst meine Hände nicht bewegen können. Jetzt konnte ich es. So musste auch die Stummheit vergehen. Sie musste.
Das Feuer explodierte Funken sprühend und fauchend. Dann beruhigte es sich seufzend. Wie eine Frau, dachte ich.
Aber was war geschehen? Es war Morgen gewesen, ich hatte mich angekleidet. Dann der Anfall, die Lähmung, der Sturz. Das Knirschen in meiner Nase. Ich hob eine Hand zu meiner Nase. Sie war dick verpflastert, und zu beiden Seiten waren zwei stützende Hölzer angebracht. Also hatte ich sie mir gebrochen.
Warum war ich vornüber gefallen? Was für eine Krankheit hatte mich da ergriffen? Ich sammelte meinen ganzen Willen und meine ganze Kraft in meiner Kehle und rief noch einmal. Stille.
Ich war stumm. Wie der Vater Johannes des Täufers, Zacharias. Warum? Gott handelte niemals ohne Grund. Zacharias hatte die Sprache verloren, weil er mit dem Erzengel Gabriel gestritten
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