Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich, Heinrich VIII.

Ich, Heinrich VIII.

Titel: Ich, Heinrich VIII. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret George
Vom Netzwerk:
Gebrauch von Vernunft und Erinnerungskraft einen Hinweis auf meinen Fehler zu finden. Er konnte in einer Kleinigkeit bestehen, so geringfügig, dass ich ihn nicht bemerkt hatte, als ich ihn beging. (Aber würde Gott so ungerecht sein, dass er mich wegen einer Kleinigkeit mit solcher Gewalt heimsuchte?) Ich musste um Erleuchtung beten.
    So schloss ich die Augen und konzentrierte mich auf das Gebet. Ich redete Gott an, wie ein König angeredet zu werden wünscht: mit Ehrfurcht und Demut. Unversehens wühlte ich in den Kammern meines Geistes nach angemessenen Worten. Als mein Vorrat erschöpft war, schuf ich neue, formte sie liebevoll und zärtlich. Dann begann ich, Ihm für alle Segnungen in meinem Leben zu danken. Als ich sie aufzählte, stockte ich: Erstaunt sah ich, wie reich ich gesegnet war, aber zugleich fühlte ich mich zunehmend verwundbar. Mit jedem Gut, das wir besitzen, besitzt Gott uns ein wenig mehr, denn wir erbeben bei dem Gedanken, er könnte es uns aus irgendeiner Laune wieder nehmen. Und schon diese Angst, so lernen wir, ist unloyal und folglich sündhaft … War das meine Sünde gewesen? Hatte es mir an grenzenlosem Vertrauen auf Gott ermangelt? Und wenn nun …?
    Nein. Ich unterbrach mich. Ich hatte mir vorgenommen, zu beten, mein Herz auszuschütten und auf eine Antwort zu warten; ich durfte mich nicht auf halbem Wege unterbrechen und mir meine Fragen selbst beantworten. So fuhr ich fort mit den Segnungen meines Lebens, und ich zählte nicht die Dinge, die ich besaß, sondern die Dinge, deren Genuss mir gewährt war, Dinge, die kein Mensch besitzen konnte. Jahreszeiten. Schlaf. Träume. Erinnerungen. Musik. Dann dachte ich an einzelne Dinge in diesen Dingen. Ich stellte mir das Blatt eines Baumes vor, sah sein ganzes Leben, die schwellende Knospe, das spitze Hellgrün, das sich entfaltete, seine dunkle, staubige Fläche auf dem Höhepunkt seines Lebens im Sommer.
    Und während ich dies tat, erst mit dem Blatt, dann mit anderen Dingen, geriet ich in eine Art Trance. Ich fing an, unmittelbar mit Gott zu sprechen, sehnte mich danach, mich ganz und gar vor Ihm zu öffnen, denn nur dann könnte ich eins mit Ihm werden, nur dann könnte Er in das dringen, was krank war in mir, und es heilen. Meine Rede war wortlos, wenn es möglich ist, das zu verstehen. Ich gab mich Gott ebenso nackt, wie der kleine Edward sich jeden Abend seiner Kinderfrau anvertraute, und ebenso vorbehaltlos.
    Ich empfand seltsame Glückseligkeit, friedliche Ekstase. Meine Augen waren geschlossen – oder waren sie offen? Ich war nicht in dieser Welt.
    Und auch die Antwort bekam ich, aber in wortloser Form. Dieses greifbare Gefühl des Friedens bedeutete, dass Gott diese völlige Hingabe von mir verlangte: Ich sollte mich Ihm weiter so restlos anvertrauen, wie ich es eben getan hatte. Ich würde es lernen müssen, aber diese Augenblicke würden immer häufiger stattfinden müssen. Gott würde mich stumm bleiben lassen, bis ich gelernt hätte, mit meinem Herzen und meinem ganzen Ich zu beten, nicht nur mit meinen Lippen.

CIII
    W ährend ich darauf wartete, tiefer in diese reiche, unergründliche Beziehung zu Gott hineingeführt zu werden, musste mein irdischer Leib auf der pelzwarmen Bettstatt liegen und das Warten ertragen. Er musste beschwichtigt werden, denn die irdischen Stunden werden unserem irdischen Leib aus Lehm recht lang, selbst wenn sie in mystischer Entrückung verstreichen.
    Der Abend nahte, als Timothy Scarisbrick, ein Kammerdiener, mit einem Tablett voller Speisen mein Gemach betrat. Wo war Culpepper?, fragte ich mich, aber es war ein flüchtiger Gedanke, und er schwand sogleich. Dieser Bursche hier gefiel mir gut. Er war aufrecht und blass und sah aus wie Christus – zumindest wie ich mir den jungen Christus in seinen unbekannten Jahren vorstellte, da er nichts weiter war als der Sohn Marias in Nazareth. Er legte mir das Tablett, ein mit zierlichen Elfenbeinintarsien geschmücktes Ding (es sah syrisch aus – eine Assoziation, die mir nicht gefiel) auf den Schoß und nahm das deckende Tuch herunter. Eier, gehacktes Hühnerfleisch und Suppe. Invalidenspeise. Bleich und schwach, wie der Invalide, den es angeblich nährte.
    Nach diesem »Mahl« kam wieder der Arzt; er hörte meinen Herzschlag ab, nahm die Ausflussschale fort, ersetzte sie durch eine neue und tätschelte dann fürsorglich den Berg von Pelzen. »Ruhet wohl«, verkündete er wie ein Priester, der die Absolution erteilte. Ich winkte nach Feder und Papier

Weitere Kostenlose Bücher