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Ich, Heinrich VIII.

Ich, Heinrich VIII.

Titel: Ich, Heinrich VIII. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret George
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die Frage der Herberge von größter Bedeutung. Selbst die reichsten Edelleute hatten ja keinen Platz für so viele, und so stellten wir zweihundert unserer eigenen luxuriösen Zelte zur Verfügung, um die Differenz auszugleichen. Ja, die Reise selbst, das Protokoll, die Übernachtungen, die obligatorischen Veranstaltungen zur Unterhaltung (»Langweilung« sollte man besser sagen) – das alles war öde. Aber die Landschaft!
    Oh, warum hatte ich nicht schon längst ganz England gesehen? Ich war gefesselt von der Landschaft selbst, ja. Aber noch mehr von den Menschen. In jeder Gegend trugen sie den Stempel ihrer Herkunft und ihrer Vergangenheit. Auf dem Weg nach Norden wurden die Leute größer und hellhäutiger. An der Grenze nach Norfolk hatten sie Augen, so blau wie ein klarer Oktoberhimmel, beinahe ausnahmslos. »Dänisches Blut«, sagte Dr. Butts, der solches zu seinem Vergnügen studierte. »An dieser Seite Englands siedelten die Dänen, und die Normannen machten hier ihre Beutezüge. Von den Dänen stammen die blauen Augen, von den Räubern die roten Haare.« Er wies auf einen Knaben mit feuerrotem Schopf, der ein Marktkreuz erklommen hatte, um uns vorüberziehen zu sehen. »Ein liebreizendes Kind, das die Spuren einer so brutalen Vergangenheit an sich trägt.«
    Sie sprachen auch anders. Es kam vor, dass ich in den höflichen kleinen Reden, die uns die Einheimischen hielten, bestimmte Wörter nicht verstehen konnte.
    Als wir weiter nach Norden kamen, wurden die Siedlungen spärlich, und wir ritten immer öfter durch ausgedehnte Wälder. Auch die Tage wurden länger. Die Dämmerung schien fast so lange zu währen wie der Nachmittag.
    »Je höher der Norden, desto länger der Tag«, erklärte Wyatt, der von den Merkwürdigkeiten der Geografie fasziniert war. »In den höchsten Breiten, etwa im nördlichen Schottland, auf den Orkney- und den Shetland-Inseln, wird es im Juni überhaupt nicht mehr Nacht. Es bleibt immer ein purpurnes Dämmerlicht.«
    Wilder und wilder wurde das Land. Es gab so viel Wildbret, dass wir uns nicht mehr die Mühe machten, zu jagen, als der Reiz des Neuen erst verflogen war. Überdies war der Wald ringsum so dicht und ausgedehnt, dass es unklug erschien, sich allzu weit hineinzuwagen. In dieser Gegend hatte Robin Hood sein Revier gehabt, und jetzt war es völlig einleuchtend, dass der Sheriff von Nottingham gezögert hatte, Robin Hood und seine munteren Gesellen in den Wald von Sherwood zu verfolgen. Ich hätte den Gesetzlosen wohl auch laufen lassen.
    In Lincolnshire, welches ich einstmals als »wildeste und bestialischste Grafschaft des ganzen Reiches« bezeichnet hatte, begann das Land der Verräter. Es war so abgelegen, dass wir mit unserer langsamen, feierlichen Reisegeschwindigkeit vierzig Tage gebraucht hatten, um von London hierher zu gelangen. Da nahm es kaum Wunder, dass die Leute in Lincolnshire sich unserem Zugriff entzogen glaubten und sich für ein eigenes feudales Königreich hielten.
    Vor den Stadttoren von Lincoln wurden wir überschwänglich begrüßt – von den Bürgern und vom Bürgermeister, der mir zum Zeichen der Unterwerfung das Schwert und die Keule der Stadt übergab. Aha. Endlich sah ich eines dieser Verräternester, hübsch herausgeputzt für diesen Anlass und parfümiert vom Protokoll. Ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass die Städte hier in diesen Grafschaften des Nordens nur schwimmende Inseln waren, nachgeäffte Zentren der Zivilisation in einem weiten Meer der Barbarei und der Bosheit. Es gab Wölfe in diesem Land. Ich hörte sie heulen, noch als ich mitten in Lincoln stand.
    Meine »Rose ohne Dornen« – wie rund und zart sie hier aussah! Wie verblüfft und neidvoll die Blicke, die sie auf sich zog! Aber gerade die Wildheit des Landes war es auch, worauf sie reagierte: Sie glich immer mehr einer Zigeunerin – ihre Wangen wurden röter, ihr Haar dunkler, die Augen schräger und lockender, je weiter wir nach Norden vordrangen.
    Und weiter ging es nach York; das, was man hier als Straßen bezeichnete, waren ausgefahrene Schlammwege. Zwischen Lincoln und York gab es eine Menge von ehemaligen klösterlichen Anlagen – in Torksey, in Willoughton, in Selby. Bei einigen hatte man die Bleidächer abgedeckt und die Mauersteine geplündert, sodass sie jetzt, in dieser grünen Jahreszeit, wie ruinierte Bräute dastanden, weiß und verwundbar. Es war der Anblick dieser misshandelten Damen, der in so vielen Menschen des Nordens rechtschaffenen Zorn

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