Ich, Heinrich VIII.
barmherzig zurückzuweichen und zu schwinden. Ich war jetzt dankbar dafür, dass ich das Porträt, das ich mir gewünscht hatte, am Ende nie in Auftrag gegeben hatte. Holbein – dem ich sein Kleve-Porträt verziehen hatte, nachdem er mir erklärt hatte, dass es üblich sei, Pockennarben wegzulassen – war seinerzeit mit den Skizzen für ein Wandgemälde in meinen Staatsgemächern beschäftigt gewesen, einem dynastischen Bildnis, das meinen Vater, mich und meine Kinder zeigen sollte. Jetzt gab es nichts mehr, was mich an Catherines Gesichtszüge in allen Einzelheiten erinnert hätte.
Aber ich dachte oft an sie. In gewisser Weise sehnte ich mich nach ihr – nach dem, was sie für mich war oder doch gewesen war. Und dafür hasste ich mich.
Alles das indessen war menschlich und beherrschbar. Aber diese Verwirrtheit, die Verwechslung von Ereignissen und Reihenfolgen – ich weiß jetzt, dass es kein Wahnsinn war. Wahnsinn bedeutet, das Wirkliche nicht vom Unwirklichen unterscheiden zu können. War Wolsey tot, oder war er es nicht? Nein, darin lag mein Leiden nicht. Es lag darin, dass ich mich nicht erinnern konnte, ob ich ihm in Grafton, bei unserer letzten Begegnung, die Hand auf die Schulter gelegt hatte oder nicht. Ich hoffte, dass ich es getan hatte. Aber Hoffen ist nicht dasselbe wie Wissen.
Aber so ging es in den Monaten nach den Hinrichtungen. Ich erinnere mich an diese Zeit wie an einen beständigen Kampf gegen den Feind, meine Verwirrtheit. Langeweile, Einsamkeit, Reue – das alles wurde zweitrangig angesichts der dringenden Notwendigkeit, die Herrschaft über meinen Verstand einigermaßen zurückzugewinnen, wenngleich diese Notwendigkeit (gebe Gott!) nicht auf den ersten Blick offenkundig war.
Will:
Nein, sie war es nicht. Im Gegenteil, mit Erstaunen lese ich hier von seinem Kampf. Nach außen zeigte er sich gut gekleidet und interessiert an diplomatischen Depeschen, und er verfolgte die wachsende Kluft zwischen Karl und Franz mit seinem gewohnten wachen Sarkasmus. Auch sah ich mit Freude, dass er anscheinend von seiner Abhängigkeit von Weibern und der Liebe kuriert war. Er zeigte keinerlei Interesse mehr an romantischen Geschichten, weder an eigenen noch an denen anderer. Ich schloss daraus, dass der König endlich erwachsen geworden war.
Heinrich VIII.:
Ich ließ die Howards frei, alle die, die ich verhaftet und in den Tower gesperrt hatte. Meine Wut gegen sie hatte sich abgekühlt, und es erschien mir albern und erbärmlich, sie weiter zu bestrafen, auch wenn sie dazu verurteilt worden waren, all ihren Besitz einzubüßen und lebenslang im Kerker zu schmachten. Die alte Herzogin-Witwe, Lord William Howard und seine Frau Margaret, Catherines Tante Lady Bridgewater, Catherines Schwägerin Anne Howard: In Wahrheit hatte ich die Energie für den weißglühenden Hass nicht mehr, zu dem ich in meiner Jugend fähig gewesen war. Also wandelten sie als freie Menschen hinaus in die Sommerluft, und gebe Gott, dass sie mehr Genuss darin fanden als ich.
Nein, ich hatte nicht besonders viel Freude daran. Der erste Mai brach an, und er brachte keine Erinnerungen, weder gute noch schlechte. Es war ein Tag wie jeder andere, und kühl zudem. Von meinem Fenster aus sah ich schwankende Zweige; sie bezeichneten die Rückkehr derer, die den Mai feierten und schon im Morgengrauen aufgestanden waren, um Kräuter und blühende Blumen zu sammeln. Ich hatte nicht das Verlangen, unter ihnen zu sein, noch verachtete ich sie, weil sie taten, was sie taten. Ich hatte, wie gesagt, meine Kraft zum Hassen verloren, und das war auf seine Art schlimmer, als hätte ich die Kraft zum Lieben verloren.
Ich ging selten ins Freie und fand ein mürrisches Vergnügen darin, das Gegenteil dessen zu tun, was »gut« für mich gewesen wäre. Meine Ärzte drängten mich, an die frische Luft zu gehen, und so hockte ich in einer stickigen Kammer und las Depeschen. Eines Morgens sah ich Apfelblüten, und da schloss ich die Vorhänge.
Die Depeschen waren eine teuflische Mischung aus Informationen und Lügen. Aus Schottland meldete man, meine Schwester sei gestorben, und zwar an einem geplatzten Blutgefäß im Kopf. Aber stimmte das? Und wenn es stimmte, hatte sie ein Testament hinterlassen? Ihre politische Bedeutung hatte sie vor Jahren verloren, und mir persönlich bedeutete sie schon länger nichts mehr. Aber sie war die Letzte aus meiner Familie, und jetzt würde mich niemand mehr überleben. Ich hatte länger gelebt als sie alle. All die
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