Ich, Heinrich VIII.
blieb zurück, und meine Großmutter Beaufort. Die Edelleute und höfischen Würdenträger, die den König nicht begleiteten, kehrten auf ihre eigenen Güter zurück, denn in Abwesenheit des Königs würden am Hofe keine Geschäfte stattfinden. Die Geschäfte folgten ihm, und der Hof war, wo immer er sich gerade aufhielt.
Aber auch dort würden die Geschäfte nicht zahlreich sein; die ganze Welt, so schien es, erlag in diesen goldenen Augustwochen dem Müßiggang.
Golden waren sie für mich. Ich verbrachte sie beinahe ohne Unterlass mit sportlichem Treiben und beteiligte mich zu Pferde und zu Fuß an den verbotenen Turnieren meiner Gefährten, und immer wieder setzte ich meine eigene Unversehrtheit aufs Spiel. Warum? Ich weiß es nicht, nicht einmal heute. Aber ich suchte die Gefahr, wie ein Mann in der Wüste das Wasser sucht. Vielleicht, weil sie mir so lange verwehrt gewesen war. Vielleicht, weil ich mich selbst erproben, weil ich sehen wollte, wann meine Tapferkeit zerbräche und Angst an ihre Stelle träte. Vielleicht liegen die Dinge aber auch einfacher. »Junges Volk muss seinen Spaß haben«, so schrieb ich selbst einmal, und dies war eben eine Art Spaß für mich, ritterlich und todesmutig …
Wenn ich an diese Wettkämpfe denke, so muss ich glauben, dass die Vorsehung mich damals schonte und mir eine strenge Bestrafung ersparte. Es war in jenem Sommer des Jahres 1506, dass Bryan sein Auge einbüßte, und einer meiner Kameraden starb an den Folgen eines Schlages auf den Kopf, den er beim Turnier davongetragen hatte. Das Seltsame ist, dass er unmittelbar nach seinem Unfall durchaus wohlauf zu sein schien. Aber in der Nacht starb er plötzlich. Einer von Linacres Gehilfen (Linacre selbst war mit dem König unterwegs) verriet mir, dass es bei Kopfverletzungen oft so kommt. Es blutet im Innern des Schädels, wo man es nicht sehen und nicht zum Stillstand bringen kann.
Wir waren erschüttert, erschrocken – und jung, und schon nach wenigen Tagen sprengten wir wieder stürmisch aufeinander los. So töten wir einander in der Erinnerung ebenso schnell und natürlich wie in der Wirklichkeit.
Des Abends speisten wir zusammen, und dann spielten wir Laute und plauderten über unsere künftigen Eroberungen in Frankreich, wo wir Waffenbrüder sein würden. Wir hatten es gut in dieser Zeit; es war eine Pause zwischen dem, was gewesen war, und dem, was kommen würde.
Wenn ich spätabends allein in meiner Kammer war, hatte ich keine Lust zum Schlafen. Jetzt, da ich nicht mehr eingesperrt war, genoss ich die Einsamkeit, nachdem ich den ganzen Tag in der Gesellschaft meiner lärmenden Kameraden verbracht hatte.
Meine Kammer zu Greenwich hatte zwei Fenster; das eine blickte nach Osten, das andere nach Süden. Das östliche hatte eine Fensterbank, und hier saß ich oft noch gegen Mitternacht. Im Osten war der Himmel immer am dunkelsten. Mitte August war die Zeit der langen Dämmerungen vorüber, und es wurde schneller dunkel. Die Sterne waren jetzt ungewöhnlich klar zu sehen. Ich versuchte, einzelne zu erkennen, denn ich hatte Astronomie studiert. Eine große Zahl von Sternbildern kannte ich schon. Der Himmel und die Sterne faszinierten mich. Ich war beeindruckt von der Möglichkeit, Eklipsen und andere Phänomene mathematisch vorherzubestimmen. Ich wollte lernen, wie man das machte. Schon jetzt wusste man, dass der drittnächste Vollmond teilweise verfinstert sein würde. Woher?
Ich wollte alles lernen, alles erfahren; ich wollte mich recken und strecken, bis ich das Ende meiner selbst erreichte und … nein, ich wusste nicht, was ich da finden würde.
Das kleine Fenster, an dem ich saß, stand offen. Ein heißer Windstoß fuhr herein, und es rumorte in der Ferne. Weit hinten flackerte es hell am Himmel. Es würde ein Gewitter geben. Die Kerzen und Fackeln in meiner Kammer flackerten.
Der Wind kam von Westen. Ohne darüber nachzudenken, fühlte ich mich eins mit diesem Wind, mit dem heißen, suchenden Wind. Ich griff nach meiner Laute, und Melodie und Worte kamen gleich hervor, als seien sie immer schon da gewesen.
O, Westwind! West!
Wann blasest du?
Ein Regen, das wär nett!
Gott, läg mir doch mein Schatz im Arm
Und ich in meinem Bett!
Der Sommer ging zu Ende, und der König kehrte zurück. Schon wenige Stunden nach seiner Ankunft ließ er mich zu sich rufen. Jemand hatte ihm von den Turnieren erzählt. Wenn ich damit nicht gerechnet hatte, so war es mein Fehler. Bei Hofe gibt es keine Geheimnisse.
Ich
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