Ich, Heinrich VIII.
dies nur umso zwingender erscheinen.
Vater schickte sich an, auf eine seiner allsommerlichen »Staatsreisen« zu gehen; während er fort wäre, würde ich ein paar Wochen lang meine Freiheit genießen können. Einst hatte ich mich danach gesehnt, ihn begleiten zu dürfen, und war gekränkt gewesen, als er es mir untersagt hatte; jetzt wünschte ich mir, er wäre schon fort.
Wenn man bedenkt, dass Vater sich ungern unters Volk begab, dass er es verabscheute, angestarrt zu werden, und dass es ihn mit Unbehagen erfüllte, wenn er nicht alles rings um sich her fest im Griff hatte, dann ist es erstaunlich, wie oft er sich auf solche Reisen durchs Land begab. Er betrachtete sie als eine Notwendigkeit, und außerdem gefiel es ihm, auf Kosten anderer zu leben.
Vorgeblich hatten diese Reisen den Sinn, dem Monarchen die Möglichkeit zu geben, dem Alltagstrott im Schloss und den Staatsgeschäften für eine Weile zu entrinnen und einfach im Lande umherzustreifen. Tatsächlich aber dienten sie dazu, den König sein Land und seine Untertanen besichtigen zu lassen und – was noch wichtiger ist – dem Volk Gelegenheit zu geben, ihn zu sehen. Es war nötig, dass man die Leute daran erinnerte, wer ihr König war, und dass man ihn in seiner prächtigsten Gestalt vorführte. Wohin die Reise den König auch führte, überall strömte das Volk zusammen und säumte den Straßenrand, um einen Blick auf ihn zu erhaschen. Mütter hoben ihre Kinder in die Höhe, damit sie ihn sahen. Manchmal stolperte wohl auch ein Mann herbei, der an Skrofulose litt, und bat den König, ihn zu berühren, denn das gemeine Volk glaubte, so sei diese Krankheit zu heilen.
Der König reiste nicht etwa ziellos durch die Gegend, genoss die Reize der Landschaft oder lagerte am unberührten Ufer eines Flusses, um sich an gesunder, einfacher ländlicher Speise zu laben. Dies war die Pose, die er einnahm. In Wirklichkeit wurde die Route schon während der Wintermonate sorgfältig geplant, damit all die reichen Grundbesitzer und Edelleute in ihrer Nähe die nötigen Vorbereitungen zur Aufnahme und Bewirtung des Monarchen und seines Gefolges treffen konnten. Der König reiste ja nicht allein; er nahm den größten Teil seines Hofstaats mit, und schon deshalb kam ein schlichtes Bauernmahl in grüner Au nicht infrage. Unglaubliche Mengen von Lebensmitteln waren erforderlich, und wer das Unglück hatte, die königliche Reisegesellschaft zwei Jahre hintereinander zu beherbergen, musste sich im ungünstigen Fall hoch verschulden.
Es gab noch einen, einen dunkleren Grund für Vaters Reisen: Er wollte sich der Loyalität der mächtigen Adelsfamilien versichern und sich davon überzeugen, dass sie das gesetzliche Verbot livrierten Gefolges beachteten. Man konnte niemals sicher sein. Edward IV . hatte die Auflösung der Privatheere befohlen, welche die Lords unterhielten. Sie waren aus nahe liegenden Gründen eine Bedrohung für ihn. Einmal war er auf einer Reise beim Grafen von Oxford abgestiegen, einem der getreuesten Parteigänger des Hauses Lancaster. Der Graf hatte sein Gefolgschaftsheer in Uniform antreten lassen, um den König mit einer großen Loyalitätsdemonstration zu begrüßen. Edward sagte nichts, bis er abreiste. »Ich danke Euch für die gute Bewirtung«, erklärte er dann. »Aber ich kann nicht zulassen, dass vor meinen Augen gegen meine Gesetze verstoßen wird.« Und der Graf musste zehntausend Pfund Strafe zahlen – eine weit höhere Summe als heute, da der Wert des Geldes so erschreckend verfällt.
Am ersten August wurde in der königlichen Kapelle nach altem Brauch die Erntedankmesse gefeiert; ein Laib Brot, gebacken aus dem ersten Korn des Jahres, wurde zum Altar gebracht. Am Nachmittag brach der König auf und begann seine Reise. Erst gegen Ende September, zu Michaelis, würde er zurückkehren, wenn das Jahr sich allmählich dem Winter zuneigte. An Michaelis gab es immer Gänsebraten, ein herzhaftes Herbstgericht.
Ich saß an einem der oberen Fenster und schaute zu, wie sich die königliche Reisegesellschaft unten im Hof versammelte. Es war heiß und stickig; der Herbst und Michaelis schienen in weiter Ferne zu liegen. Die Freiheit ließ mich schwindlig werden. Alle gingen mit auf die Reise. Ich sah Fox und Ruthai und Thomas Howard und Thomas Lovell und auch Vaters zwei Finanzminister, Empson und Dudley. An seine Finanzen musste der König denken, wenn schon nicht auf dem Land im Sonnenschein, dann wenigstens spät am Abend.
Nur Erzbischof Warham
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