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Ich, Heinrich VIII.

Ich, Heinrich VIII.

Titel: Ich, Heinrich VIII. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret George
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als jedes andere Gefühl. Mitleid war die schlimmste aller Beleidigungen. Wer Mitleid hatte, schaute immer aus einer Position der Überlegenheit auf den Bemitleideten hinunter. Das Verständnis kam von seiner Höhe herab und teilte den Schmerz, aber das Mitleid blieb oben sitzen und schaute verachtungsvoll hinunter. Mitleid ohne Taten war nutzlos, ein abscheulich unrein Ding. Nein, davon wollte ich nichts. Jedem, der mich mitleidig anschaute, würde ich die Augen ausstechen und das Gesicht zerschneiden.
    »Nein, Euer Gnaden.«
    Lügnerin! »Warum dann?«
    »Aus – aus Zuneigung«, sagte sie. »Aus Zuneigung und Freundschaft – diese beiden sind eine Liebe von der Art, die sich nicht um körperliche Gebrechen schert und der das leibliche Wesen nichts bedeutet. Der Eros hat mit dem Körper zu tun, obgleich selbst der Eros eine Art von Liebe ist, denn er will die Seele ebenso wie den Körper besitzen. Die Wollust ist das einzige Begehren, das sich nur auf den Körper richtet.«
    Ich grunzte. »Zuneigung. Kann Zuneigung einen Menschen zur Heirat bewegen?« Zuneigung war in meinen Augen etwas Schwaches, eine verwässerte Version von Eros oder Freundschaft, nicht etwas, das an sich existierte.
    »Die Griechen nannten es storge«, sagte sie. »Es ist im ursprünglichen Sinn eine besondere Art der familiären Liebe. Es ist warmes Behagen, die Zufriedenheit im Zusammensein. Es ist die demütigste aller Arten von Liebe, weil sie sich keinen Anschein gibt. Sie ist verantwortlich für das haltbarste, dauerhafteste Glück in unserem Leben. Ist das kein würdiger Grund, eine Hochzeit zu erwägen?«
    Ihre schnelle, wohl durchdachte Antwort überraschte mich. Dies war etwas, worüber sie in ihrem Herzen längst Klarheit gewonnen hatte.
    »Ihr empfindet also Zuneigung für mich, Kate?«
    »Ich empfinde sie schon lange. Sonst würde ich – könnte ich – nicht einwilligen, Eure Gemahlin zu werden.«
    »Aber wenn ich es Euch nun befohlen hätte, süße Kate?« Ein Gefühl von großer Zärtlichkeit und Fürsorge und Wohligkeit überkam mich.
    »Zuneigung lässt sich nicht befehlen«, antwortete sie lächelnd.
    Und so pflückten wir weiter Erdbeeren und plauderten dabei glücklich über die philosophischen Unterschiede zwischen Storge, Philia, Amicitia, Eros und Caritas, und als wir zum Essen nach Wolf Hall zurückkehrten, fühlten wir uns schon wie ein Ehepaar. Besser gesagt, wie ein Ehepaar fühlen sollte, obschon allerdings meine anderen Ehen solchen Bandes schmerzlich ermangelt hatten. Mit Ausnahme meiner Ehe mit Jane natürlich. Immer mit Ausnahme von Jane …

CXXII
    M eine Kuriere konnten jetzt öfter kommen und gehen; allein daran war zu erkennen, dass die Lage vor allem im Süden Englands sich allmählich besserte. Die Zahl der Pesttoten in London nahm um die Zeit der Mittsommernacht jäh ab; das gemeine Volk schrieb dies dem Zauber zu, der den längsten Tag des Jahres umgab. Wissenschaftler und Ärzte sahen den Grund in einem mysteriösen Effekt der Sonnenstrahlen auf die Krankheit. Was immer es war, die Seuche lockerte ihren Würgegriff und ließ London wieder zu Atem kommen.
    Zwei Wochen später starb niemand mehr an der Pest. Aber wir mussten noch einmal vierzehn Tage abwarten, um sicherzugehen. Dann hieß es: Zurück nach London, zurück zum gewohnten Leben.
    Die Depeschen der verstreuten Mitglieder des Staatsrates ließen erkennen, dass auch sie mit ihren Gedanken wieder zu den Staatsgeschäften zurückgekehrt waren und es kaum erwarten konnten, ihre Pflichten wieder aufzunehmen. Bischof Gardiner hatte genug davon, mit Audley in Suffolk die Gärten zu pflegen; die Rosen blühten zwar, aber sie hatten nicht viel Freude daran. Wriothesley und Cranmer, die ich in eine Gemeinde in Colchester geschickt hatte, hatten den Versuch unternommen, sich für die Lokalgeschichte zu interessieren, und sie hatten sogar ein Taufregister der benachbarten Pfarrgemeinden erstellt (indem sie ihre Tage damit verbracht hatten, Kirchenakten abzuschreiben). Unversehens waren sie in dieser Beschäftigung völlig versunken; sie hatten sich vorgestellt, wie die Familien wohl sein mochten, und sich gegenseitig mit erdachten Geschichten erklärt, wie die Abstände zwischen den einzelnen Geburten zu Stande gekommen waren und warum man diesen oder jenen Taufnamen erwählt hatte. Aber nach einer Weile waren sie dessen müde, schon weil sie nicht besonders fantasiebegabt waren, und schließlich wussten sie nicht mehr, wie sie sich die Zeit vertreiben

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