Ich, Heinrich VIII.
Gemeinde.
Cranmer hob die Hände. »›O Herr, lass mich wissen mein Ende und die Zahl meiner Tage: Auf dass ich sicher weiß, wie lange ich zu leben habe.
Siehe, Du hast meine Tage gemacht wie eine Spanne so lang, und meine Jahre sind nichts im Verhältnis zu Dir.
Denn in eitlem Schatten wandelt der Mensch und beunruhigt sich vergebens.
Höre mein Gebet, o Herr. Denn ich bin ein Fremdling vor Dir, und ein Gast, wie meine Väter alle.
Oh, verschone mich noch eine Weile, damit ich neue Kraft gewinne, ehe ich von hinnen gehe und man mich nicht mehr sieht.‹«
So beteten wir alle in tiefem Ernst, und alle wappneten wir uns für die kurze Zeitspanne, die uns noch blieb. Ich schaute mich nach Brandons Kindern und seiner jungen Witwe um. Wie es auch sein mag, wir bleiben nur für ein Weilchen verschont. Dann geht es weiter.
Jetzt begann die Requiemsmesse. Die Opferung, die Aufhebung der Hostie, die Wandlung. Das ewige Leben, Christi Leben, vor unserer Nichtigkeit … die weiße Hostie, strahlend vor dem schwarzen Leichentuch.
»›Der Mensch ist geboren aus dem Weibe und lebt nur eine kurze Zeit, die erfüllt ist von Jammer. Er wächst empor und wird gemäht wie eine Blume, und flüchtig wie ein Schatten überdauert er nicht den Tag.
Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen: Bei wem können wir Zuflucht suchen, wenn nicht bei Dir, o Herr, der Du mit Recht unsere Sünden missbilligst?‹«
Cranmer nickte mir zu. Ich war an der Reihe, mein Lobgedicht vorzutragen. Ich erhob mich von meiner Kniebank, schritt langsam zu den Chorstufen und blieb vor dem Sarg stehen. Ich war trotz der Hitze dieses Augustvormittags in einen Mantel gehüllt und hatte mein Haupt mit einer Kapuze bedeckt, wie es der Brauch verlangte. Die Fackeln umloderten noch immer den Sarg und verströmten wallende Wolken von Rauch.
»Liebe Freunde«, hob ich an, »und liebe Familie.« In der vordersten Reihe sah ich Brandons Hinterbliebene: seine Witwe Katherine, seine erwachsenen Töchter Anne und Mary, die Sprösslinge seiner Jugendehen, und Frances und Eleanor, Töchter meiner Schwester. Auch Enkelkinder waren da. Alle seine Töchter waren verheiratet. Plötzlich merkte ich, dass sich ein Lächeln in meine Mundwinkel stehlen wollte. Noch im Tode war Brandon von einer Schar anbetender Damen umgeben.
»Ich bin der Hauptleidtragende, weil ich als Kindheitsfreund und Schwager des Herzogs bei diesem Begräbnis der Gastgeber bin. Als seine Gemahlin, meine Schwester Maria Tudor, ehemals Königin von Frankreich, verstarb« – ich sah, wie Katherine Willoughby erstarrte –, »äußerte er den ausdrücklichen Wunsch, man möge ihn in aller Stille in der College-Kirche zu Tattershall in Lincolnshire bestatten, ›ohne allen Pomp oder äußerlichen, weltlichen Stolz‹. Er dachte an seine Gläubiger und die Schulden seiner Familie und wollte alle unziemlichen Ausgaben vermeiden. So war der Herzog. Stets dachte er an die anderen.«
Vor mir sah ich den ganzen Staatsrat wie schwarze Krähen in einer Reihe sitzen, unnatürlich still, ohne zu krächzen oder aufeinander einzuhacken.
»Der Herzog war mein Freund. Wir kannten einander seit unserer Kindheit.« Ich hielt inne, um das Gedicht hervorzuziehen, das ich ihm zum Lobe vortragen wollte. Ich war froh, etwas Schriftliches zur Hand zu haben, denn meine eigenen Worte waren die Worte eines siebenjährigen Knaben – und tatsächlich war dieser der Hauptleidtragende: ein unsicherer siebenjähriger Knabe aus Schloss Sheen. So zog ich Henry Howards Gedicht aus seiner Hülle, geschrieben aus irgendeinem anderen Grund, jetzt aber war es mein.
Martial, sind es nicht diese Dinge,
Die uns das Glück des Lebens schenken:
Ein reiches Erbe, das uns zufällt,
Und guter Boden. Ein unbeschwerter Sinn.
Ein enger Freund. Kein Haken, Keine Klippe.
Kein Rollenzwang, kein Herrscheramt.
Gesundes Leben ohne Krankheit.
Ein gut bestelltes Haus von Dauer.
Frugales Essen, nichts, was Aufwand braucht.
Dazu kommt tiefe, schlichte Weisheit.
Die Nacht soll aller Sorgen ledig sein,
Und Wein soll Heiterkeit nie unterdrücken.
Ein treues Weib, ganz ohne Frage.
Und Schlaf, wie ihn nur schenkt die Nacht.
Zufrieden sei mit dem, was dir gegeben;
Wünsch dir den Tod nicht, noch fürchte seine Macht.
Ich verstummte und faltete das Papier zusammen. More hatte es so getan, ganz genau so, als er seine Elegie zum Begräbnis meiner Mutter vorgelesen hatte; ich hatte dabeigestanden und gelauscht, ein Knabe von elf Jahren. Damals, als
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