Ich, Heinrich VIII.
das Blattgold und das herzogliche Wappen herunterzureißen, und wie man ihn langsam hinunterließ.
»›O Herr, unser allerheiligster Gott, o Herr und Allmächtiger, o Du heiliger und barmherziger Erlöser, verlasse uns nicht in der bitteren Pein des ewigen Todes.
Du kennst, o Herr, die Geheimnisse unserer Herzen; verschließe Dein barmherziges Ohr nicht vor unserem Gebet, sondern verschone uns, allerheiligster Herr und ewiger Richter, und lasse nicht zu, dass wir in unserer letzten Stunde in den Qualen des Todes von Dir abfallen.‹«
Cranmer stand nun vor diesem obszönen Grabesloch.
»›In Furcht erbebe ich vor dem Gericht und dem Zorn, der über mich wird kommen.
Dieser Tag wird sein ein Tag des Zornes, des Jammers und des Verderbens: ein Tag von Größe und entsetzlichem Grauen.
Erlöse mich, o Herr, von der ewigen Verdammnis an diesem Tag des Grauens, wenn Himmel und Erde erschüttert werden.‹«
Für Brandon war der Tag gekommen. In diesem Augenblick stand er vor seinem Richter – oder er hatte sein Urteil schon empfangen und leistete seine Buße. Schreiend lag er im Fegefeuer, flehte um Schonung, wand sich in furchtbarer Qual – während wir dumm, wie nur sterbliche Menschen es sein konnten, dasaßen und die Behausung seines Leichnams anstarrten.
»›Führe uns nicht in Versuchung‹«, intonierte Cranmer, »›sondern erlöse uns von dem Übel, von den Toren der Hölle.‹« Er besprengte den Sarg in der Tiefe, in der dunklen, einsamen Tiefe. »›Herr, errette seine Seele. Lasse ihn ruhen in Frieden.‹«
Die gedungenen Totengräber traten vor und warfen mit dem Spaten einen Haufen Lehmklumpen und Erde in das Loch. Ein kurzer Augenblick, und dann hallte fern das Echo des Aufschlags herauf.
»›O Gott, dessen Natur es ist, stets gnädig Schonung zu gewähren, wir bitten Dich demütig im Namen des Herzogs von Suffolk, Charles Brandon, den Du von dieser Welt hast abgerufen: Dass Du ihn nicht mögest überlassen den Händen des Feindes, noch ihn für alle Zeit vergessen, sondern ihn lassest empfangen von den heiligen Engeln und führen in das Paradies, seine Heimat, denn er hat all sein Vertrauen und Hoffen in Dich gesetzt, auf dass er nicht erleide die Qualen der Hölle, sondern die ewige Seligkeit habe.‹«
Hübsche Worte. Beruhigende Worte. Aber hatte Brandon jemals wirklich eine Beziehung zu Gott gehabt? Wir hatten nie darüber gesprochen. Und es war meine Schuld, meine Schuld – ich hatte das Licht Christi nie mit ihm geteilt. Ich hatte den Geist gesehen, aber ich hatte ihn in meiner eigenen Brust gehortet, derweil wir von Feldzügen und Liebschaften und allerlei irdischem Kram geplaudert hatten.
Ich hatte Brandon in die Hölle fahren lassen, falls nicht eine andere, gütigere Seele ihm die Liebe Christi gebracht hatte. Denn ritterliche Taten waren nicht genug, wenn sie nicht zum Ruhme Gottes verrichtet wurden. Und das hatte Brandon nicht getan.
O Gott! Die Wahrheit zu besitzen und sie nicht zu teilen, ist eine ebenso schwere Sünde, wie ihrer gänzlich zu ermangeln!
Vergib mir, Charles!, flehte ich. Ich wusste es nicht – und ich wusste nicht immer, was ich nicht wusste. Nicht einmal jetzt bin ich sicher – was ist Wahrheit, und was ist nur eine Einmischung in das private Gewissen eines anderen?
Cranmer stand vor der offenen Grube.
»›Da es dem allmächtigen Gott in Seiner großen Barmherzigkeit gefallen hat, die Seele unseres lieben verstorbenen Bruders zu sich zu rufen, übergeben wir seinen Leib nunmehr der Erde. Asche zu Asche, Staub zu Staub. In fester und sicherer Hoffnung auf die Auferstehung zum ewigen Leben durch unseren Herrn Jesus Christus, der unseren abscheulichen Leib verwandeln wird, auf dass er werde wie Sein eigener verklärter Leib, gemäß Seinen mächtigen Werken, mit denen er alles andere Sich selbst unterwerfen kann.‹«
Die Hauskämmerer des Herzogs traten vor, zerbrachen ihre Stäbe und warfen sie in die Grube zum Zeichen dafür, dass ihr Herr für alle Zeit von ihnen gegangen war.
Jetzt konnte das Grab geschlossen werden.
»Lasset uns nun beten, wie der Herr uns zu beten gelehrt hat«, sagte Cranmer und sprach dann mit uns das Gebet des Herrn.
Draußen in der blendenden heißen Sonne blinzelten wir alle. Wir waren noch lebendig – das war der Schock, nicht das helle Licht oder der krasse Übergang. Drinnen hatte alles innegehalten, und es war kühl gewesen. Aber draußen hatte die ganze Zeit über das Leben gewogt. Insekten fielen über uns her
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