Ich Ich Ich - wir inszenieren uns zu Tode
kam von der → Betroffenheits-Guste Claudia Roth: »Es passt zu ihr und es macht deutlich, dass sie sich engagiert.«
Am stärksten engagierte sich Charlotte Roche für ihren zweiten Roman »Schoßgebete«. Die von der Presse am häufigsten zitierten und mit ihr diskutierten Sujets waren: Oralsex, gemeinsame Puffbesuche mit dem Ehemann und der Unfalltod von Roches Brüdern. Neben der Finanzkrise schien es im Sommer 2010 kein anderes Thema zu geben als die Autorin. Das ging so weit, dass Ernst A. Grandits, Moderator der Sendung Kulturzeit auf 3sat, die Roche bei der Frankfurter Buchmesse so ansprach: »Man hat über Sie ja alles schon gehört und gelesen. Was würden Sie selbst denn gerne mal gefragt werden?«
Sie kündigte bereits ihren dritten Roman an, über den wir – wenn ihr nicht die Promi-Modekrankheit Burn-out dazwischenkommt – schon bald auf allen Kanälen mehr erfahren werden, als wir je wissen wollten.
Wer auf werbewirksame Aufreger setzt und sich dann der Presse ausliefert, braucht ein dickes Fell. Viel angenehmer ist es, etwas ganz Harmloses zu tun, wie zum Beispiel Tee zu trinken, und darauf zu warten, dass sich andere darüber aufregen. Funktioniert nicht? Doch, wie Philipp Lahm, Verteidiger beim FC Bayern München und in der Nationalmannschaft, vormachte. Der gelernte Bankkaufmann, der für einen Fußballer überdurchschnittlich intelligent und vernünftig ist, schrieb eine kreuzbrave Fibel über sein Leben und darüber, wie man es als Kicker nach ganz oben schafft. Das Aufregendste darin ist das Dementi eines Gerüchts: »Ich bin nicht schwul. Ich bin mit meiner Frau Claudia nicht nur zum Schein verheiratet, und ich habe keinen Freund in Köln, mit dem ich in Wahrheit zusammenlebe.« Sonst findet sich in »Der feine Unterschied« nichts Neues oder gar Skandalöses. Auch was Lahm über die Arbeit mit dem ehemaligen Bundestrainer Rudi Völler (»Pro Tag wird vielleicht eine Stunde trainiert, dann verziehen sich alle wieder auf ihre Zimmer.«) und den gescheiterten Bayern-Coach Jürgen Klinsmann (»Bei Klinsmann trainierten wir fast nur Fitness. Taktische Belange kamen zu kurz.«) schreibt, ist Fußballfans bekannt. Trotzdem taten die beiden Trainer ihm, angestachelt von der Bild -Zeitung, den Gefallen, sich aufzuregen: Klinsmann: »absolut unqualifiziert und nicht angebracht.« Völler: »erbärmlich und schäbig«. Ergebnis: Lahms besinnliches Buch schoss auf Platz 1 der Bestsellerliste.
Immerhin findet sich darin eine schlüssige Begründung für diesen rasenden Unsinn: »So ist Fußball.«
Der Spätzünder
Für ihn ist das Alter – das allgemein nicht als erstrebenswert gilt – ein großes Glück. Denn nun, im Herbst seines Lebens, wird der Spätzünder wirklich populär, gilt auf einmal als großer Weiser, seine über weite Strecken wenig glorreiche Vergangenheit ist vergessen. Prototyp ist der als Bundeskanzler nicht übermäßig erfolgreiche und schon gar nicht beliebte Helmut Schmidt. Im Greisenalter aber mauserte sich der heutige Zeit -Herausgeber zum Idol für Alt und Jung. Er darf vor Publikum nach Herzenslust den schlecht gelaunten Opa geben, Journalisten schurigeln oder zu allem und jedem apodiktische Meinungen vertreten.
Und wenn er, wie so häufig, gegen das Rauchverbot verstößt, gilt das als revolutionäre Tat. Je weiter seine Amtszeit zurückliege, desto größer würden seine Fußstapfen, zitierte die FAZ einen aktuell führenden Genossen.
Ein offen kritisches Wort über ihn riskieren nur noch wenige, etwa der Literaturkritiker und ehemalige Feuilleton-Chef der Zeit Fritz J. Raddatz, der sich in seinen Tagebüchern über Schmidts »grässliches Oberlehrergequatsche« mokiert. Keine Beißhemmung kennt auch ein anderer Spätzünder, der früher öfter mit Schmidt aneinandergeriet: Jimmy Carter, als Präsident der USA ebenfalls keine glückliche Figur. In seinen Erinnerungen »White House Diary« stellt er Schmidt als wankelmütig und unzuverlässig dar. Dessen »Stimmungen schwanken ständig zwischen Jauchzen und Niedergeschlagenheit«, notierte Carter Anfang 1978. »Mir scheint, nicht nur Frauen haben ihre Tage.«
Welch erstaunlicher Kontrast zum Ruf des Altkanzlers als »Macher und Denker« ( Stern ), als »Herr der Flut« ( Spiegel ) und »Welterklärer« ( Hamburger Abendblatt )! Der wundersame Imagewandel beruht auf der Geschichtsvergessenheit des Publikums einerseits und Schmidts »Kunst der verdrossenen Selbststilisierung« andererseits, wie Kurt Kister in der
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