Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
Mundkrankheiten. Danach nahm Liv ihn meistens mit ins Café, bestellte sein geliebtes Bananenschokoshake, während er Lenny über die englische Premier League ausquetschte. Heute wollte sie nicht, dass er durchs Gebäude streunte.
»Tut mir leid, Liebling, diesmal musst du hierbleiben.«
»Warum?«
»Weil ich nicht möchte, dass du heute auf dem Gang spielst.«
»Warum?«
»Darum, okay?«
Als Simone eintraf, schloss sie sich mit ihr und Cameron im Büro ein – und alle anderen aus. Liv erklärte ihr, dass das Büro schließen müsse, sie aber noch nicht entschieden hätten, welche Kunden sie behalten würden. Der letzte Teil war ein wenig gelogen. Sie konnte sich einfach nicht dazu durchringen, laut auszusprechen, dass ihr Unternehmen gescheitert war.
»Bananenschokomilch kommt sofort«, rief Lenny, als Liv und Cameron ins Café kamen.
»Super!«, rief Cam.
»Danke heißt das«, korrigierte Liv und bestellte einen Kaffee.
Sie wählte einen Tisch an der Wand, von dem aus sie die regennasse Straße und die späten Gäste beobachten konnte. Ein Grüppchen älterer Highschool-Schüler mit heißer Schokolade und klebrigen Kuchen. Ein ihr bekannter Immobilienmakler, der sein Büro weiter unten an der Straße hatte und einem jungen Mitarbeiter einen Vortrag hielt. Drei ältere Frauen, die Cappuccino tranken und lachten. Durch die Tür drang der Lärm des Nachmittagsverkehrs – Schulbusse, Laster und Autos, die schnell auf der nassen Straße dahinfuhren.
Sie lauschte Camerons Geplapper und dachte an Benny, den Hund. Sie hatte Rachel eine Nachricht hinterlassen, dass jemand dem Nachbarshund vergiftete Fleischbrocken aus ihrem Garten zugeworfen hatte. Sie hatte nichts mehr von ihr gehört.
»Ich zahle nur schnell. Bleib hier.«
Cameron hatte sein Milchshake ausgetrunken und war zum Fernsehzombie geworden, der auf dem Bildschirm über Lennys Tresen einem Fußballspiel folgte.
»Cam!«, zischte Liv und wackelte mit dem Finger vor seinem Gesicht. »Hast du gehört? Bleib hier sitzen, hörst du?«
Er blinzelte, konzentrierte sich kurz und antwortete dann: »Okay.«
Lenny rief ihr hinter der Kaffeemaschine zu: »Wie geht es Teagan?«
Liv brachte ihn auf den neuesten Stand, wusste aber selbst nicht, wie die OP heute gelaufen war.
»Die Ermittler sind ganz sicher am Fall dran, ich habe sie heute schon drei Mal gesehen.«
Liv runzelte die Stirn. »Die kleine Frau und der junge Mann?«
»Genau.«
»Sie waren hier?«
»Ja. Haben ein paar Fragen über Teagan gestellt, weil sie ein Auto kaufen wollte. Sie haben auch Kaffee bestellt. Dann habe ich sie in deinem Gebäude am Ende des Flurs gesehen, als ich eine Bestellung für Mariella aufgegeben habe.«
Liv dachte nach. »Haben sie den Notausgang überprüft?«
»Das glaube ich nicht. Sie haben eher irgendwo geklopft und schienen auf jemanden zu warten.«
Risikokontrolle und Anwaltskanzlei lagen gegenüber am Ende des Flurs. »Daniel oder der Anwalt?«
»Genau.«
»Ich meine, wollten sie zu Daniel oder zu Anthony?«
»Keine Ahnung.« Er erhob seine Stimme: »Groß, flach, weiß.«
Ein Mann ging zum Tresen und nahm seinen bestellten Milchkaffee mit. Durchschnittliche Größe, Mitte dreißig, Anzug. Als sie wieder zu Lenny sah, war er in der Küche verschwunden. Sie würde Rachel anrufen, um zu erfahren, was los war.
»Cam, bist du fertig?«, rief sie und drehte sich zu ihm um.
Dann sah sie den weißen Umschlag in seiner Hand, und das Herz blieb ihr stehen.
35
Noch ehe Liv bei ihm war, hatte er bereits eine glänzend bunte Karte aus dem Umschlag gezogen.
»Ich habe eine Geburtstagskarte bekommen«, sagte Cameron mit leuchtend großen Augen.
Er öffnete sie, Liv sah die große Acht vorne drauf, dann flatterte ein Zettel auf den Tisch. Es war doch gar nicht sein Geburtstag. Er hatte im Dezember Geburtstag.
»Wo hast du das her?« Sie hob den Zettel auf und öffnete ihn. Die einzelne Zeile in engen Großbuchstaben ließ ihre Knie weich werden.
HAST DU JETZT ANGST, LIVIA?
Sie riss ihm die Karte aus der Hand.
»Ich habe sie doch noch gar nicht gelesen!«, schrie Cameron.
Er würde den Inhalt der Nachricht nicht begreifen, und sie würde keineswegs zulassen, dass Cameron sie las, geschweige denn tat, was darin stand.
Hallo Cameron,
frag deine Mutter, ob sie möchte, dass du neun wirst.
»Cameron, wo hast du das her?«, fragte sie hartnäckig.
»Ein Mann hat es mir gegeben.«
»Wann? In der Schule?«
»Nein, jetzt eben.«
Entsetzt wirbelte sie herum
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