Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
Baufirma. Die Geschichte vom Vortag lieferte Details zu Daniels langer Zeugenaussage über die sieben Stunden, die er in den Trümmern des Gebäudes verbracht hatte, um Leanne Petronio am Leben zu halten. Ihr Unterleib war zwischen mehreren Betonplatten eingeklemmt gewesen, aber sie war die ganze Zeit bei Bewusstsein geblieben. Sie hatte von ihren drei Kindern und ihrem Mann und dem lang ersehnten Traumurlaub in Spanien erzählt. Daniel beschrieb, dass sie ganz offensichtlich verängstigt, aber unglaublich mutig gewesen sei. Am Nachmittag hatte der Verteidiger von Mackey & Mackey Daniels Rettungseinsatz infrage gestellt und angedeutet, Leanne Petronio sei gestorben, weil er sich nicht an die Vorschriften gehalten habe.
Sechs Monate zuvor hatte ein Artikel über Daniel und zwei andere Feuerwehrmänner berichtet, denen man für ihren Einsatz zur Rettung der Opfer die Tapferkeitsmedaillen verliehen hatte.
Die Tragödie selbst hatte sich sieben Monate vorher ereignet und war wochenlang Thema in den Medien gewesen. Liv kannte die Geschichte bereits und übersprang die Einzelheiten, blieb aber an einem Foto von Daniel hängen, das ihn kurz nach der Bergung aus den Trümmern zeigte. Er war dreckig, sein Gesicht schweiß- und schmutzverkrustet. In einer Hand hielt er eine Flasche Wasser, die andere strich über sein stoppeliges Haar, so wie sie es schon mehrfach bei ihm beobachtet hatte. Vielleicht hatte jemand seinen Namen gerufen, oder der Fotograf hatte einfach Glück gehabt, jedenfalls hatte die Kamera ihn genau in dem Moment erwischt, als er das Objektiv fixierte. Er sah ausgezehrt und nervös aus. Genau wie gestern Abend vor ihrer Tür.
Dann stand er tatsächlich vor ihrer Tür. Sie zuckte zusammen, als er ans Glas klopfte, und machte den Bildschirm aus, bevor sie ihn hereinbat. Er hatte zwei Kaffees dabei – einen für sie. Heute Morgen wirkte er nicht mehr so mitgenommen. Nur müde.
Liv musste an Leanne Petronio denken und versuchte sich vorzustellen, wie es war, sie so lange am Leben gehalten zu haben, um sie dann im Krankenwagen zu verlieren. Sie hätte gerne etwas gesagt, um seine Sorge zu vertreiben, die ihn zu ihr und Teagan ins Krankenhaus getrieben hatte. Doch als sie letzte Nacht sein Gesicht gesehen hatte, glaubte sie, dass er nicht unbedingt darüber reden wollte. Also nahm sie ihren Becher entgegen und dachte daran, dass sie diesen Monat seine Rechnung bei Lenny bezahlte. »Ich geb uns mal wieder einen Kaffee aus, was?«, grinste sie.
»Wenn Sie das so sehen wollen.«
»Was macht das Loch in Ihrem Dach?«
Er schien einen Augenblick verwirrt. »Oh, das Dach. Cameron hat mich mit Fragen gelöchert. Mir ist nichts Besseres eingefallen, als er wissen wollte, warum ich auf dem Sofa geschlafen habe.«
»Gut gemacht. Ich habe gehört, er hat Ihnen seine zwanzig Fragen gestellt.«
»Waren es nur zwanzig?«
»Ihn hat ziemlich beeindruckt, dass Sie jeden Tag in einem Feuerwehrauto gefahren sind.«
»Sie etwa nicht?«
Sie zuckte die Schultern. »Ein bisschen schon.«
Er hob kurz eine Augenbraue. »Ich bin heute im Büro, falls Sie irgendwas brauchen.«
Als er gegangen war, versuchte sie noch einmal Kellys letzten Termin anzurufen. Laut Terminkalender sollte er um halb vier im Büro stattfinden, doch niemand ging ans Telefon, nicht einmal eine Mailbox. Als sie aufgelegt hatte, winkte Ray durch die Glastür.
Sie signalisierte ihm, dass sie beschäftigt war.
Er bewegte die Lippen und zeigte auf den Türknauf. »Deine Tür ist abgesperrt.«
Nur ruhig Blut, sagte sie sich und ging um den Tresen herum.
»Deine Tür ist abgesperrt«, sagte er noch einmal, als sie die Tür öffnete.
»Ich weiß, ich habe sie selbst abgesperrt.«
»Ach, das erklärt alles.«
»Ja, danke noch mal.« Sie lächelte höflich und wollte die Tür wieder schließen.
»War ’ne schlimme Sache gestern mit deiner Mitarbeiterin. Gibt’s was Neues?«
Ray war dabei gewesen, hatte Daniel auf dem Lieferwagen geholfen. »Sie ist stabil«, sagte Liv, drehte sich um und ging wieder zur Tür. »Daniel hat erzählt, dass du auf einem oberen Parkdeck warst, als es passierte. Hast du irgendwas gesehen?«
Er richtete sich ein wenig auf und rückte seinen Werkzeuggürtel zurecht. »Wie ich der Polizei bereits sagte, war ich im dritten Stock und habe sie um circa zwölf Uhr fünfundfünfzig die Fahrbahn im Parkhaus überqueren sehen. Nach Angabe des Beamten muss es ungefähr zehn Minuten vor dem Sturz gewesen sein. Ich hatte gerade die Tür
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