Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
ihr ausbreitete. Liv, Cam darf dich nicht so sehen. Er darf es nicht mitbekommen. Sie fädelte sich wieder in den Verkehr ein und beobachtete die Autos hinter ihr.
Vor einem Jahr hätte sie ihn, ohne zu zögern, zu ihrem Vater gebracht. Er hätte Cameron mit seinem Leben verteidigt.
Vor einem Jahr hatte sie auch noch viele Freunde gehabt, denen sie vertrauen konnte. Vor einer Woche hatte sie noch drei verlässliche Freunde gehabt. Jetzt lag Sheridan im Krankenhaus. Kelly war zwar noch ihre Freundin, aber sie hatte ihre eigenen Sorgen wegen Teagan, und wenn sie zu ihr ging, bedeutete das, dass auch Jason mit einbezogen werden musste. Und nach dem, was gestern Abend vorgefallen war, wollte sie ihn nicht sehen. Und sie war sich gar nicht so sicher, dass Cameron bei ihm in Sicherheit wäre.
Es gab also nur noch eine Möglichkeit, doch bei dem Gedanken daran biss sie die Zähne so fest zusammen, dass sie zu zerspringen drohten.
Sie zwang sich, ruhig zu bleiben. »Cam, wann kommt Michelle am Dienstag normalerweise nach Hause?«
»Am Nachmittag.«
»Dann ist sie jetzt schon zu Hause?«
»Glaub schon.«
Frag nicht, bitte frag jetzt nicht, sie wollte es nicht laut aussprechen. Sie fuhr den langen Weg zu Thomas’ Haus, nahm Umwege, blickte in der Dämmerung immer wieder in den Rückspiegel und hatte das Gefühl, ans Ende ihres Lebens zu fahren. Und sie wünschte, es hätte einen anderen Weg gegeben. Einen, der nicht bedeutete, ihren Sohn der Frau zu übergeben, die ihn ihr weggenommen hatte.
Cameron schwieg, bis sie vor dem Haus an den Bordstein fuhr. Dann brach er in Tränen aus. »Es tut mir leid, Mummy. Das wollte ich nicht. Ich wusste nicht, dass du so wütend werden würdest.«
Liv meinte, ihr Herz würde zerspringen. Sie riss den Sicherheitsgurt los und zog ihn an sich. »Oh, Cam, nein, Liebling. Nicht weinen. Ich bin nicht böse auf dich.«
»Aber warum sind wir hier? Es ist doch noch gar nicht an der Zeit. Ich habe doch erst eine Nacht bei dir übernachtet.«
O Gott, mein Gott. Wie sollte sie ihm das erklären? Wie sollte sie ihrem Sohn erklären, dass er in Gefahr schwebte, wenn er bei ihr blieb? Dass es ihr das Herz brach, wenn er ging? »Ich weiß, Cam, ich weiß. Aber es ist etwas passiert, du musst also noch ein paar Tage bei Daddy bleiben. Nur ein bisschen.« Bitte, nur ein wenig länger.
Er krallte seine Hand in ihre Bluse. »Ich werde brav sein. Das verspreche ich.«
Sie drückte ihn fest an sich und blinzelte die Tränen weg, die ihr in die Augen stiegen. Er darf deinen Schmerz nicht sehen, Liv. Das würde ihn nur noch mehr verstören. Er musste wissen, dass sie sich im Griff hatte, dass sie für beide Entscheidungen treffen konnte, auch wenn er sie nicht verstand.
»Du bist immer brav, Cameron. Du bist der beste Junge, den man sich wünschen kann. Ich liebe dich sehr. Ich liebe dich über alles. Darum sind wir auch immer zusammen, auch wenn du nicht immer bei mir bist, okay?« Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und sah ihm in die Augen. »Okay?«
Er nickte.
»Ich war wütend wegen der Karte, nicht auf dich. Auf dem Zettel stand, dass ich etwas tun soll, was ich nicht tun will, da kannst du nicht mitkommen.«
»Kannst du es nicht nächste Woche tun?«
»Ich würde es am liebsten gar nicht tun, aber manchmal hat man keine Wahl.«
Er zog den einen Mundwinkel herunter, als wäre das eine schlechte Ausrede.
»Das ist wie beim Zimmeraufräumen: Wenn man es nicht macht, kriegt man richtig Ärger.« Sie hob die Augenbrauen und sah ihn an. Er zog den anderen Mundwinkel runter – Schuld. »Außerdem würde ich dich niemals zur Strafe wegschicken. Ich würde dich nur zwingen, Brokkoli zu essen.«
Er verdrehte die Augen. Sie strich über seine Wange und küsste ihn auf die Stirn. Sie musste noch eine Weile stark sein. »Komm, wir sehen mal nach, ob Michelle schon zu Hause ist.«
Liv hielt Cameron die Schultasche über den Kopf, als sie im Regen zur Haustür rannten. Es war inzwischen dunkel und still in der vornehmen Nachbarschaft geworden. Ein fahles Licht drang irgendwo hinten aus dem Haus. Es dauerte eine Weile, bis auf das Klingeln ein Schatten hinter der Tür erschien. Liv musste blinzeln, als das Licht vor der Tür anging, und ihr Herz hämmerte wild, als sie den Schlüssel in der Tür hörte.
Die Haustür ging auf, und das Lächeln auf Michelles Lippen erstarb. Sie starrte Liv durch die Fliegengittertür an, und die Skepsis auf ihrem Gesicht war so offensichtlich wie der Bauch, den sie
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