Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
zum Treppenhaus geöffnet, da habe ich den Krach gehört. Zwei Leute sind zur Absperrung gerannt und ich hinterher. Als ich gesehen habe, was passiert war, habe ich sofort einen Mann gebeten, einen Krankenwagen zu rufen, und dann Daniel informiert. Ich habe ihm vorgeschlagen, meinen Erste-Hilfe-Koffer aus dem Wartungsraum zu holen, aber er meinte, er hätte selbst einen in seinem Büro. Ich beschloss also, seinen zu holen, weil es schneller ging. Ich habe ihn Daniel gebracht und ihn dann medizinisch unterstützt, bis der Krankenwagen gekommen ist.«
Liv nahm sich einen Augenblick Zeit, um zu überlegen, was sie darauf antworten sollte. Er hatte es wie einen Bericht heruntergerattert, vielleicht wie die Stellungnahme, die er danach der Polizei abgeliefert hatte. Und er hatte sie ausgeschmückt, um seine Rolle in dem Drama bedeutsamer zu schildern, als sie gewesen war.
Sie hatte keine Ahnung, ob er in seinem Wartungsraum tatsächlich einen Erste-Hilfe-Koffer hatte, wusste aber, dass die einzige medizinische Unterstützung, die er geleistet hatte, auf Daniels Anweisung hin erfolgt war. Und soweit sie gesehen hatte, hatte er ihm auch nur die Ausrüstung gereicht. Sie hätte ihn am liebsten darauf angesprochen und ihm gesagt, was für einen Blödsinn er da redete und dass mehr als zwanzig Zeugen ihn gesehen hätten und wie schrecklich es sei, Teagans Unfall zu nutzen, um Eindruck zu schinden, aber dann ließ sie es bleiben. Sie hatte am Morgen auch ihn im Internet gesurft. Er hatte nur acht Facebookfreunde, nannte sich Büroaufseher und sprach von schwerer Arbeit und Verantwortung. Vielleicht dachte er, dass er nur mit Übertreibungen punkten konnte.
Gestern hatte Daniel ihr erzählt, Ray habe ihm aus dem dritten Stock zugerufen, dass ein Krankenwagen unterwegs sei, aber viel wahrscheinlicher war, dass er keinerlei Anweisungen gegeben hatte. Vielleicht wusste er ja nicht einmal, um welche Uhrzeit Teagan in das Parkhaus gekommen war, bis ein Beamter ihm die Zeit des Sturzes mitgeteilt hatte. Der Punkt war, dass er sie gesehen hatte.
»Weißt du, warum sie ins Parkhaus gegangen ist?«, fragte Liv.
»Na ja, sicher bin ich mir nicht, aber ich hatte ihr von einem dreitürigen Sedan im zweiten Stock erzählt, an dem ein Zu-verkaufen-Schild hing. Wahrscheinlich wollte sie ihn sich ansehen.«
Teagan hatte jedem erzählt, dass sie auf der Suche nach einem Kleinwagen, möglichst rot, war. Fast alle Männer im Gebäude hielten für sie Ausschau, es war also nicht das erste Mal, dass sie ins Parkhaus ging und nach einem Auto guckte.
»Und, soll ich dir was zum Mittagessen mitbringen? Ich nehme gerade Bestellungen auf.«
Ray zog seinen Block aus der Hemdtasche und zückte den Stift.
»Was? Ja klar. Danke.«
»Wie immer?«
Wie immer? Nichts war wie immer. Ein Teenager geht los und will sich ein Auto ansehen und wird sechs Meter nach unten auf die Straße gestoßen. Nichts war wie immer.
»Livia?«
Wie immer war Hühnchensalat auf Vollkornbrot. Was konnte man da schon falsch machen? »Ja, warum nicht? Danke, Ray.«
Als er gegangen war, googelte sie die Leute, die sie von der Park Street kannte – Ladenbesitzer, Angestellte und Anwohner, die sie regelmäßig traf. Sie fand nur noch persönliche Hinweise, aber nichts, das auf einen Stalker passte. Manche Leute fand sie gar nicht, bei anderen kannte sie die Nachnamen nicht oder fand sonst keine Erwähnung – von Lennys Frau Margie beispielsweise oder dem Schneider, der sein Atelier auf der anderen Straßenseite hatte, dem Bäcker in der Bäckerei im nächsten Block oder dem pensionierten Vertreter, der jeden Morgen im Café saß, seinen doppelten Espresso trank und die Termine der Pferderennen studierte. Doch das waren nur einige. Die Welt war ein öffentlicher Schauplatz, wenn man sich nur die Zeit nahm, genau hinzusehen.
Als Liv Cameron von der Schule abholte und mit ins Büro nahm, regnete es. Sie wollte eigentlich nicht mehr zurückkommen, hatte aber Kellys Termin um halb vier nicht erreicht – außerdem war Simone eine zuverlässige Zeitarbeiterin, die schon seit der Eröffnung des Büros dabei war. Liv wollte ihren harten Einsatz nicht mit Nichtanwesenheit quittieren.
Für Cam war das kein Thema. Er war gerne im Bürogebäude, wenn sie arbeiten musste. Jeder hier kannte ihn. Mariella verwöhnte ihn mit italienischen Süßigkeiten, Ally gab ihm kieferorthopädische Gummibänder zum Spielen, und wenn er zurückkam, erzählte er von den widerlichen Plakaten über
Weitere Kostenlose Bücher