Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
undurchdringlicher Gesichtsausdruck gaben Liv das Gefühl, als habe sie Daniel in ein falsches Licht gerückt. Nach allem, was er für sie getan hatte, wollte sie nicht, dass er auf die Liste der Verdächtigen kam. »Hören Sie, ich weiß nicht, warum Sie mich das alles fragen, aber er war es nicht. Er ist zwar groß, aber er hatte Hemd und Krawatte an, als er mich gefunden hat. Ich hatte Glück, dass er bis spätabends gearbeitet und sich die Mühe gemacht hat, dem Geräusch nachzugehen.«
Rachel nickte, als hätte Liv eine interessante Bemerkung gemacht. »Er war mal Feuerwehrmann. Wussten Sie das?«
Liv nickte. »Bei der Rettung.«
»Er ist ein ehemaliger Kollege und hat gleich dort drüben bei der Feuerwache gearbeitet.« Sie wies mit dem Kopf zur Wand ihres Büros. »Er war schon immer gut, wenn es brenzlig wurde.«
Die Beamtin schwieg und schien auf eine Antwort zu warten. Aber da sie ihr keine Frage gestellt hatte, nickte Liv nur, als habe sie eine nützliche Information erhalten.
»Okay, das ist erst mal alles.« Rachel steckte ihren Stift in einen Becher und schloss den Aktenordner. »Und noch was, Livia. Denken Sie daran, der Täter ist noch auf freiem Fuß. Ich rate Ihnen also, jegliches Risiko zu meiden.«
Liv blickte finster drein. »Meinen Sie, er könnte es noch mal versuchen?«
»Solange jemand frei herumläuft, sollte man das nie ausschließen. Gehen Sie abends nie alleine auf die Straße, und halten Sie sich von einsamen Plätzen fern. Das Parkhaus sollten Sie auch eine Zeit lang meiden. Das gilt auch für Ihre Kollegen. Falls es ein zufälliger Überfall war, könnten sie auch gefährdet sein.«
Während die Beamtin eine Visitenkarte aus ihrem Schreibtisch zog und hinten etwas notierte, dachte Liv über das »Falls« nach. Falls es ein Zufall gewesen war, konnte er zurückkommen und das Parkhaus als Jagdrevier nutzen. Und falls nicht …
»Hier sind meine Nummern – Durchwahl und Handy.«
Rachel stand auf und bedeutete Liv, ihr zu folgen. Liv ging hinter ihr den Flur entlang und musterte die Frau, deren entschlossene Haltung sie beeindruckte. Rachel war mindestens einen Kopf kleiner als Liv mit ihren ein Meter achtzig, aber was ihr an Größe fehlte, glich sie mit ihrer Körpersprache aus. Vermutlich trieb sie viel Sport. Sie schien durchaus fähig zu sein, einen Mann zu fassen und ihn zu überwältigen.
»Übrigens«, sagte Rachel, »die Presseabteilung der Polizei hat Einzelheiten zu Ihrem Überfall veröffentlicht. Ich habe bereits mit einer Reporterin von View TV gesprochen. Keine Ahnung, wo sie die Informationen herhatte, sie hat mich jedenfalls nach Ihnen und Ihrer Geschäftspartnerin gefragt. Ich habe weder etwas bestätigt noch geleugnet, aber Sie sollten sich auf einen Anruf gefasst machen.«
Liv hatte schon eine Vermutung, wer das gewesen sein könnte. »Was halten Sie davon, wenn ich mit den Medien spreche?«, fragte sie Rachel, als sie im Eingangsbereich waren.
Rachel steckte die Hände in die Hosentaschen. »Wir geben Informationen heraus, um die Leute zu ermutigen, uns Informationen zu liefern. Sie sollten sich zu nichts gezwungen fühlen, aber eine Überlegung wäre es wert. Holt Sie jemand ab?«
»Nein, ich rufe mir ein Taxi.«
»Rufen Sie lieber von hier aus an.« Sie gab dem Beamten am Empfang ein Zeichen. »Ich melde mich. Seien Sie vorsichtig, Livia.«
Das klang ganz nach einer Warnung. Liv wartete vor der Wache auf das Taxi. Du stehst am helllichten Tag vor einem Polizeirevier, Liv. Gibt es einen sichereren Ort?
Ihre Hand schmerzte, die Schwellung in ihrem Gesicht hatte sich vergrößert und beeinträchtigte ihr peripheres Sehvermögen. Das gab ihr ein ungutes Gefühl. Sie war fit, vielleicht momentan nicht so wie Rachel Quest, aber für eine Frau war sie stark, groß und hatte eine ordentliche Reichweite – und jetzt konnte sie links nichts sehen und war rechts geschwächt. Rundum verwundbar.
Liv bat den Taxifahrer, sie gegenüber von ihrem Büro abzusetzen, so wie immer. Die Autos, die nach Süden fuhren, hatten drei Häuserblocks lang keine Möglichkeit zu wenden, mussten sich dann um ein paar Rondelle kämpfen und konnten dann erst wieder auf die Straße nach Norden fahren. Ihrer Meinung nach sparte es Zeit und Geld, und zudem war es weniger mühsam, die vierspurige Straße zu Fuß zu überqueren. Doch heute, da die Warnung der Polizei noch in ihren Ohren nachklang, fühlte sie sich nicht wohl dabei.
Die Park Street lief durch den Vorort von Jamestown.
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