Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
Das Foto war am Dienstag geschossen worden, das letzte Mal, als sie ihn von der Schule abgeholt hatte. »O bitte, hier geht es um mich und dich. Das hat nichts mit … mit irgendwem anderen zu tun.«
Ray drehte das Handy wieder um, suchte ein weiteres Foto und hielt es ihr hin. »Und was ist mit dem hier?« Darauf war Cameron mit Michelle vor Thomas’ Haus zu sehen. »Bald wird der kleine Cameron ein kleines Brüderchen oder Schwesterchen bekommen. Wie ist sein Vater? Ich bin ihm nie begegnet. Ist er ein Schwein? Bist du deshalb nicht mehr mit ihm zusammen?«
Sie brachte keinen Ton raus und musste unaufhörlich daran denken, dass er bei Thomas’ Haus gewesen war. Dass er wusste, wo Cameron war.
Ray wartete ihre Antwort gar nicht erst ab. Er suchte noch ein Foto heraus. Diesmal war ihr Vater darauf zu sehen. Im Hospiz, sein eingefallenes Gesicht starrte in die Kamera. Sie kannte diesen Gesichtsausdruck an ihm. Er war mächtig verärgert. Tränen stiegen ihr in die Augen – sie war stolz auf seinen Mut und hatte Angst um seine Sicherheit.
»Livia, wie ist dein Vater? Ihr habt doch alleine die Wohnung über der Turnhalle bewohnt. Und, habt ihr da eine besonders enge Beziehung gehabt? Oder hat er seine Fäuste gegen dich eingesetzt? Mein Vater hatte vier Kinder, die sich um seine Bedürfnisse kümmerten. Hast du dich um die Bedürfnisse deines Vaters gekümmert?«
Liv schluckte ihren Ekel herunter und hielt sich an der Wut fest, die in ihren Adern pulsierte.
»Wie gesagt, Väter und Töchter haben meist eine besondere Verbindung. Und wie ist das bei Müttern und Söhnen, Livia? Meine Mutter wurde von einem Unbekannten wegen ihrer Handtasche zu Tode geprügelt, da war ich acht. Meine Familie wusste alles über die Gefahren da draußen in der Welt, mein Vater hat uns beschützt. Ich habe meine Schwestern beschützt, als er nicht mehr bei uns war. Und dein Sohn, Livia? Er lebt in einer gefährlichen Welt.« Er beugte sich zu ihr, sein Gesicht war jetzt nur noch Zentimeter von ihrem entfernt, seine Stimme klang leise und vertraut. »Macht es dir auch Angst, dass ihm etwas zustoßen könnte? Oder deinem Vater? Glaubst du, wenn ich einem von ihnen etwas tue, dass du dann Angst genug hast, um mich meinen Job machen zu lassen?«
Ihre Stimme war nun kaum mehr als ein Flüstern. »Bitte nicht. Tu niemandem weh.«
Ray sah auf. »Doch, ich glaube, das muss ich, du kannst entscheiden, wem. Deinem Vater oder deinem Sohn?«
Liv konnte nicht sprechen. Ihr Mund war staubtrocken.
»Wen von beiden liebst du am meisten? Wer von beiden kann dich überzeugen?«
Sie zwang sich, etwas zu sagen. »Du brauchst keinem von beiden etwas tun. Bitte. Ich benehme mich auch.«
»Vielleicht beiden.«
»Nein. Ich werde Angst haben. Ich habe schon Angst.«
Er verschränkte die Arme vor der Brust, sah sie einen Augenblick an und schüttelte skeptisch den Kopf. »Nein, ich muss dafür sorgen, dass du auch bei deinem Entschluss bleibst. Sonst ist es den anderen gegenüber unfair. Ich kann sie nicht beschützen, wenn ich mir wegen dir weiter den Kopf zerbrechen muss, ob du wieder rückfällig wirst.«
Ray schob seinen Putzwagen in den Flur, öffnete einen Werkzeugkasten, der obendrauf stand, holte ein Messer aus einem Lederetui und klemmte es in seinen Gürtel. Grauen erfasste sie, als er Handschellen, Kabelbinder und Feuerzeugbenzin zusammensuchte.
Daniel bewegte sich hinter ihm, er versuchte sein gesundes Bein unter seinen Körper zu schieben. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, die Wand hinter ihm blutverschmiert.
Ray wandte sich schnell um und trat gegen Daniels verletztes Knie. Als er aufbrüllte, schrie Ray: »Ich weiß, was du getan hast. Du hast ihr die Beine breit gemacht und wie ein Tier gegrunzt. So funktioniert der Job nicht, du verdammter Amateur.«
Er war verrückt. Ein gewalttätiger Sadist – und er ging los und schloss den Notausgang auf. Er war kurz davor, auf ihren Sohn oder ihren Vater loszugehen. Oder auf beide. Sie musste ihn aufhalten. Zumindest musste sie es versuchen.
»Ray, warte. Warte«, rief Liv.
Seine Hand lag auf der Türklinke, er hob die Augenbrauen und drehte sich zu ihr um. »Hast du dich entschieden?«
»Nein. Bitte. Warte.«
Er stieß die Tür auf.
Liv, hör auf zu betteln. Er reagiert nur auf Beleidigungen. Na schön, die konnte er zur Genüge haben. Sie atmete tief durch und legte all ihre Verachtung hinein, die sie für ihn empfand. »Du bist eine verdammte Niete, Ray.«
Er zögerte.
»Du
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