Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
klebte ein Stück Klebeband über ihren Mund, trat zurück und begutachtete sein Werk. »Das müsste reichen.«
Als er zum Notausgang ging, ergriff Liv Panik. Sie hätte sie am liebsten ausgespuckt, nach Luft geschnappt und ihn angeschrien, sie laufen zu lassen. Doch sie konnte die Lippen unter dem Klebeband nicht bewegen.
Er schloss den Notausgang auf und sah sich auf der Türschwelle noch einmal nach ihr um. »Es dauert nicht lange. Sei brav.«
Die Stille im Flur war genauso erstickend wie das Klebeband, das sie gefesselt hielt. Sie bekam keine Luft, konnte sich nicht bewegen. Sie würde sterben. Ihre Ohren dröhnten von dem Adrenalin, das durch ihren Körper jagte, und sie versuchte vergeblich, ihre Atmung unter Kontrolle zu bringen. Ihr wurde schwindelig, ihr wurde schwarz vor Augen. Mist, Liv, du wirst ohnmächtig. Reiß dich zusammen! Sie zwang sich, durch die Nase zu atmen, hielt die Luft an, atmete aus. Tat das immer und immer wieder, so lange, bis sie nur noch das leise Rauschen des Verkehrs auf der Straße hinter sich hörte.
Dann prüfte sie die Fesseln. Sie kam mit den Schuhen auf den Teppich, bewegte ihre Unterarme rauf und runter und drehte den Kopf. Wenn sie sich kräftig genug mit den Zehen abstieß, konnte sie vielleicht den Stuhl kippen. Und dann? Wenn er sie so vorfand, würde er sagen, dass sie nicht brav gewesen sei, und was würde dann passieren?
Sie kniff die Augen zusammen und blendete den Gedanken aus. Vor einer halben Stunde hatte sie noch gedacht, dass Daniel der Stalker sei. Sie hatte gedacht, er würde sie aus dem Wagen zerren und auf dem Asphalt tot liegen lassen. Nun konnte es sein, dass er tot war und sie hier drinnen sterben würde.
Vielleicht hatte sie die ganze Zeit darauf zugesteuert. Ein ganzes Jahr lang hatte sie sich wie in einem langen schwarzen Tunnel gefühlt und gehofft, irgendwann das Licht zu sehen und rufen zu können, »ich habe es geschafft«, wenn sie nur lange genug vorankroch und sich nicht unterkriegen ließ. Doch vielleicht war das gar kein Tunnel. Vielleicht war es genau so, wie Kelly gesagt hatte – ein tiefes, beschissenes Loch, und sie stand kurz davor, ganz unten anzukommen. Dass die Abwärtsspirale des vergangenen Jahres keine Prüfung war, sondern eine Höllenfahrt zum blutigen Ende. Nichts als die Vorbereitung auf ihre Niederlage. Und ihre ganze Strampelei ums Überleben war vollkommen sinnlos gewesen.
Sie hörte ein Geräusch und erstarrte. Ein Schlurfen, ein Aufprall. Draußen vor dem Notausgang. War das Ray oder jemand anderes, der ihr vielleicht helfen konnte? Ein erstickter Laut drang aus ihrer Kehle. Ein Schrei hinter dem verklebten Mund – den niemand hören konnte. Dann riss jemand die Tür auf, und Daniel kam herein.
Ihr Verstand brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er am anderen Ende des Flurs stand. Seine Schultern füllten die Tür. Er wirkte sehr groß und sehr wütend. Instinktiv dachte sie an die Unterlassungsklagen und dass er sich geweigert hatte, Rachel eine Schriftprobe abzugeben. Doch er hatte Blut im Gesicht, hellrot rann es seine Wange herunter. Sie hatte ihn ins Knie getreten, nicht ins Gesicht. Er taumelte vorwärts, seine Bewegungen waren ruckartig. Kam er, sie zu retten? Hatte er sich für sie über den Asphalt geschleppt? Dann erst sah sie es – seine Hände waren auf den Rücken gefesselt, und über seinem Mund klebte ein Klebestreifen.
Ray stieß ihn vor sich her, drehte sich um und verschloss den Notausgang wieder. Daniel warf ihr einen wütenden Blick zu. Es war ihre Schuld, dass auch er in die Sache verwickelt worden war. Ihre Schuld, dass er nicht laufen konnte, dass sein Gesicht blutete und seine Hände gefesselt waren. Sie hatte ihn für alles verantwortlich gemacht, was ihr widerfahren war – er hatte allen Anlass, sauer zu sein.
»Schön, das wäre erledigt«, sagte Ray, stieß Daniel vor sich her zur Wand neben seinem Büro und bedeutete ihm, sich zu setzen. Währenddessen sah Liv, dass seine Hände genau wie ihre mit einem breiten, silberfarbenen Klebeband auf den Rücken gefesselt waren.
Ray lächelte jetzt nicht mehr, er schien nur noch ungeduldig, weil Daniel das Gesicht vor Schmerz verzerrte, während er versuchte, sein kaputtes Bein zu bewegen. Auf halber Höhe stieß er Daniel das Knie in die Hüfte und schubste ihn auf den Teppich.
Daniel stöhnte auf vor Schmerz, während Ray ihn angrinste. »Ist es so besser? Na, wie mutig fühlen Sie sich jetzt, Mr. Securityman?« Er zog die
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