Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
davon. Dann berichtete sie von Daniel Beck, beschrieb ihn als Schwergewicht. Ihr Dad bezog sich bei einem Mann stets auf sein Körpergewicht. Manchmal fügte er ein Adjektiv hinzu, wenn der Kerl nicht genau in das Gewicht passte, wie fettes Leichtgewicht oder dürftiges Weltergewicht. Als er Thomas zum ersten Mal begegnete, hatte er ihn ein leichtes Weltergewicht genannt. Als sie ihm erzählte, dass er sie verlassen hatte, hatte ihr Dad ihn ein weinerliches fieses Weltergewicht genannt, der es nicht verdient habe, dieselbe Luft wie seine Tochter zu atmen. Wäre er nicht durch die Nachwirkungen der Chemotherapie ans Bett gefesselt gewesen, hätte sie ihn nicht davon abhalten können, ihrem Mann einen Besuch abzustatten. Seine einundsiebzig Jahre und der Krebs im Endstadium hätten Thomas nicht vor einem Schlag aufs Maul bewahrt.
Sie erzählte ihm von dem Fernsehinterview. Er konnte sich an Sheridan aus Unizeiten erinnern, für ihn war sie das reiche Mädchen, das manchmal gerne in seinem Fitnessstudio rumhing. Liv erzählte ihm, dass Sheridan auch ihn erwähnen wollte, weil die Leute noch immer über ihn sprachen.
Er krächzte zynisch. »Verdammte Leute, haben die nichts Besseres zu tun?«
Liv hatte gewusst, dass ihn das nicht beeindrucken würde. Das gab ihr ein gutes Gefühl. Er hatte ein Leben lang hart gekämpft. Härter als die meisten Menschen. Und noch härter, nachdem ihre Mutter gestorben war. Doch er hatte es geschafft. Er wollte niemand anderem ihre Erziehung überlassen, war nicht dem Rat gefolgt weiterzuboxen, solange sein Stern noch leuchtete. Er hatte die Chance auf einen Kampf um den Weltmeistertitel nicht ergriffen, sondern stattdessen eine Existenz gegründet und für sie beide ein Zuhause aufgebaut und sie alleine großgezogen. Sie zu dem gemacht, was sie heute war. Sheridan hatte ihr gezeigt, wie eine kultivierte Frau aussehen musste, und Thomas hatte ihr vorgemacht, wie man kultiviert lebte, trotzdem war sie noch immer die Tochter ihres Vaters.
Sie erzählte ihm die letzten Neuigkeiten von Cameron und dass er sich an diesem Nachmittag beim örtlichen Fußballklub als Stürmer versuchen wollte.
»Er ist noch etwas schmächtig, aber der Junge hat Mumm«, sagte er zu ihr.
Unerwartet füllten sich Livs Augen mit Tränen.
»Genau wie du, Liebes.« Er drückte ihre Finger.
»Ich vermisse ihn. Die ganze Zeit«, flüsterte sie.
»Du schlägst dich sehr tapfer.«
»Das ist kein Kampf, Dad. Da ist nichts, worum ich kämpfen könnte. Er verbringt jede zweite Woche bei seinem Vater. Daran kann ich nun mal nichts ändern.«
»Manchmal kämpft man nur darum, auf den Beinen zu bleiben.«
Sie lächelte. Ihr Vater hatte für jede Lebenslage einen geeigneten Spruch. Er hatte seinen Lebensunterhalt damit verdient, schwere Jungs zu Männern zu machen. Als sie noch klein war, hatte auch sie mit seinen Sprüchen um sich geworfen. Als Teenager hatte sie dann die Augen verdreht und gehofft, er würde sie vor ihren Freunden nicht blamieren. Seit ein paar Monaten versuchte sie wieder nach seinen Sprüchen zu leben. Nach dem Tony-Wallace-Handbuch der Küchenpsychologie. Kämpfen, um auf den Beinen zu bleiben. Den Spruch hatte sie vergessen, aber er hatte recht. Es ging nicht immer nur darum, Hiebe auszuteilen und Punkte zu sammeln. Manchmal war es schon anstrengend genug, dafür zu sorgen, dass man nicht auf dem Hintern landete. Sich nicht fallen ließ und in Trauer, Verlust und Schmerz versank.
»Ich bleibe schon auf den Beinen, Dad.« Sie wollte daran glauben. Sie wollte ihn nicht enttäuschen. Doch mit jedem Schlag, den sie kassierte, wurde es schwerer.
Sie blieb eine Stunde bei ihm und ging dann, als sie merkte, dass er müde wurde. Sie wusste, dass er seine Erschöpfung niemals zugeben würde. Das hatte er nie als Entschuldigung gelten lassen. Lauf, bis du nicht mehr kannst, und dann lauf noch eine Runde. Das schrie er durch die Sporthalle bis er heiser war. Vor ein paar Wochen war sie dabei, als der Arzt ihm zu erklären versuchte, dass es ab einem bestimmten Punkt besser wäre, nicht mehr gegen die Krankheit anzukämpfen. Sie hatte ihrem Vater ins Gesicht gesehen und gewusst, dass er das nie verstehen würde.
Sie sah prüfend über den Parkplatz und ging dann zu ihrem Wagen. Die Besuchszeiten im Krankenhaus rückten näher – inzwischen parkten mehr Autos draußen, andere fuhren herum und suchten einen Platz. Auch mehr Leute waren unterwegs. Alleine oder in kleinen Gruppen. Das hätte sie beruhigen
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