Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
abholen musste.
»Würdest du mir Neils Bericht geben, bevor du gehst?«
Kelly sah auf die Uhr und verzog das Gesicht »Tut mir leid, ich bin schon spät dran.«
Liv nickte, glaubte ihr aber nicht.
Eine halbe Stunde später schloss sie das Büro ab. Sie wollte ihren Vater besuchen, bevor es dunkel wurde, und es war besser, den Anrufbeantworter einzuschalten, als Teagan allein zu lassen.
Heute hatte er starke Schmerzen. Seine Stimme klang krächzend, und er bewegte seine Lippen nur so weit, dass er Worte formen konnte. Sie erzählte ihm, dass Cameron als Stürmer spielte, von Sheridan, die bei ihr übernachtet hatte, und von dem Mann, der ihr im Parkhaus geholfen und bei ihr zu Hause ein paar Arbeiten erledigt hatte. Sie erzählte es so, als handle es sich dabei um Renovierungsarbeiten und nicht um Lücken in ihrem Sicherheitssystem. Dann wollte er unbedingt ihr Auge und ihre Hand sehen – vermutlich kannte er sich besser mit blauen Augen und gebrochenen Fingerknöcheln aus als die meisten Ärzte. Nach Ansicht von Tony Wallace heilte alles gut ab.
Es war ihr unangenehm, nur eine knappe Stunde in seinem Zimmer zu verbringen, als würde sie es nicht länger bei einem sterbenden Mann aushalten. Aber sie wusste auch, dass ihre Gegenwart ihn anstrengte, und sie wollte doch noch viele Tage mit ihm verbringen, nicht nur ein paar Stunden.
Die Sonne war schon fast untergegangen, als sie in ihre Einfahrt bog und neben den drei Briefkästen parkte. In der Dämmerung sah sie prüfend die Straße entlang, merkte sich die Autos, die am Straßenrand parkten, zog dann den Kopf ein, hob die Klappe über dem Briefschlitz und ging zur Seite, sodass das Licht vom Haus in den Briefkasten fiel.
Ein ordentlicher Stoß Briefe lag darin. Der obere Umschlag war groß und weiß. Es klebte keine Briefmarke darauf, er war nur mit einer kritzeligen Schrift in der Mitte versehen. Sie las sie nicht. Das brauchte sie auch nicht.
Sie wusste bereits, was es war.
Und er wusste, wo sie wohnte.
20
Liv duckte sich hinter das Ziegelmäuerchen, in dem die Briefkästen waren, ihr Herz schlug heftig.
War er immer noch da?
Die Abenddämmerung warf düstere Schatten in den Garten. Dort gab es viele mögliche Verstecke.
Ihr Wagen leuchtete wie ein Schiff bei Nacht, die Scheinwerfer warfen ein gleißendes Licht auf die Straße, die Beleuchtung aus dem Wageninneren fiel durch die offene Wagentür auf den Zaun. Kein auffälliger Schatten, keine Bewegung. Sie nahm den Brief aus dem Briefkasten, eilte zum Wagen und knallte mit dem gebrochenen Knöchel an die Karosserie, als sie sich in den Wagen warf. Sie drückte auf die Zentralverriegelung, fuhr vorsichtig ein Stück vor, reckte den Hals, kontrollierte die dunklen Zwischenräume zwischen den Reihenhäuschen und blieb dann vor der Garage stehen.
War er im Haus gewesen? Sollte sie herumgehen und nach Einbruchzeichen suchen? In der Dämmerung?
Sie nahm ihr Handy in die Hand, hielt dann aber inne und überlegte. Die Polizei? Würde man jemanden schicken, nur weil sie einen weiteren Drohbrief erhalten hatte? Jason würde sofort kommen, aber Daniel war groß und kräftig und konnte einen Mann hochheben und durch die Gegend schleudern.
»Hey, Puncher.«
Sie hörte förmlich das Lächeln in seiner Stimme und hätte am liebsten geschrien, er war in meinem Haus! Doch sie atmete tief durch und versuchte dann langsam und ruhig zu reden. »Er hat bei mir zu Hause einen Zettel hinterlassen. Ich … Ich bin … Könnte er reinkommen?«
»Wo sind Sie jetzt?«
»Ich sitze im Auto vor meinem Haus.«
»Okay. Ich bin nicht weit weg. Fahren Sie mal um den Block, ich bin in fünf Minuten da.«
Daniels Stimme verriet keinerlei Besorgnis. Das hätte sie beruhigen sollen, er hatte aber auch zu ihr gesagt, dass sie eine Runde drehen sollte. Das bedeutete, dass sie nicht hier auf ihn warten sollte. Was wiederum hieß, dass das Schwein noch dort sein konnte und sie lieber woanders sein sollte.
Sie setzte zurück und fuhr dann die Straße auf und ab, bis sie Daniels Vierradantrieb kommen sah. Sie schaltete das Fernlicht an, als das Garagentor hochrollte, und sah prüfend hinein, bevor sie reinfuhr. Daniel parkte in der Einfahrt und kam zu ihrem Wagen. Er trug eine Anzughose und dazu ein T-Shirt, als habe er sich gerade umgezogen und dann alles stehen und liegen gelassen, um zu ihr zu fahren.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte sie.
Er musterte sie einen Augenblick. »Kein Problem. Waren Sie schon
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