Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
ebenso verhielt. Am anderen Ende schlenderte eine Frau über die Straße, zwei Männer kamen aus dem Parkhaus. Keiner von beiden hatte eine Verletzung. Und niemand sah zu ihnen herüber. Sie wünschte, sie könnte in die Wohnungen oben sehen.
Der direkteste Weg zum Revier führte über die Park Street, aber Daniel fuhr genau in die entgegengesetzte Richtung ein paar Blocks weiter, dann nach links und wieder nach links über die Hauptstraße abseits der Einkaufszeile. Als sie an einer Ampel stehen blieben, blickte er zu ihr herüber. »Und, Puncher, stehen Sie wieder im Ring?«
Sie lächelte und freute sich über die Anspielung. Genau, sie würde nicht aufgeben und weiter austeilen. Das hatte sie von ihrem Vater gelernt. »Ja, aber momentan auch nicht viel mehr. Finden Sie, dass ich verängstigt aussehe?«
»Er sieht, was er sehen möchte, Liv.«
»Vielleicht sollte ich versuchen, verängstigt auszusehen …«, sie zuckte die Achseln.
Er zog einen Mundwinkel nach oben. »Ich bezweifle, dass Ihnen das gelingen würde.«
»Woher wollen Sie das wissen? Sie kennen mich doch erst seit Montag, und da habe ich die meiste Zeit nur geheult und war völlig panisch.«
»Vielleicht fühlen Sie sich so, aber Sie sehen nicht so aus.«
»Sie sollten mich mal von innen sehen.«
Seine dunklen Augen glitten kurz über sie, als müsse er seine Einschätzung überprüfen. »Ich habe Sie in der Nacht in dem Parkhaus gesehen. Sie haben ganz schön was abgeliefert.«
Sie war aufgewühlt gewesen und hatte entsetzliche Angst gehabt, sie hatte in seinen Armen geweint und auf der Rückbank ihres Wagens wie ein Kind geschluchzt. Sie wünschte, sie hätte sein Selbstvertrauen.
Die Ampel wurde grün, er blickte wieder nach vorne, und sein Ton wirkte leicht befangen, als er beschleunigte. »Ja, ich weiß. Wahrscheinlich denken Sie, dass ich nur Scheiße labere, aber ich habe zwölf Jahre damit verbracht, Leute aus Löchern zu ziehen und weiß, wonach ich suchen muss. Bei so einem Job lernt man, wie man einem Opfer hilft durchzuhalten.« Er sah sie an, doch als sie seinen Blick erwiderte, drehte er sich wieder weg. »Manchmal ist das nur der Überlebensinstinkt, mit dem man arbeiten kann.«
Während er vor dem Polizeirevier parkte, beobachtete Liv die zuckenden Muskeln an seinem Kiefer und sah, dass er das Lenkrad fest umklammert hielt. Überlegte er, was in ihr vorging, oder machten ihm seine Erinnerungen zu schaffen? Sie fragte sich, wie es wohl war, wenn man zwar selbst durchtrainiert war, sich aber nur auf den Überlebenswillen des Opfers verlassen konnte, um es zu retten. Was bewirkte diese Erfahrung bei einem Menschen?
Er begleitete sie hinein, und sie setzte sich zum dritten Mal an Rachel Quests Schreibtisch und beantwortete wieder unzählige Fragen, die scheinbar nirgendwo hinführten.
»Sie sollten Ihre Gewohnheiten ändern und gewährleisten, dass immer jemand weiß, was Sie gerade machen«, sagte Rachel und schloss die Akte auf ihrem Schreibtisch. »Und vielleicht wäre es auch ganz klug, wenn Sie eine Zeit lang nicht mehr alleine auf die Park Street gehen würden.«
Liv war enttäuscht. »Na großartig. Erst werde ich verprügelt, und dann muss ich mich auch noch verstecken«, zischte sie.
Doch ihr Gefühlsausbruch schien Detective Quest nicht zu beeindrucken. Sie fuhr einfach in ihrem gewohnt neutralen Ton fort, den sie auch schon bei den anderen Fragen an den Tag gelegt hatte. »Ich weiß, das ist nicht unbedingt der beste Weg, ich versuche es auch gerade zu ändern.«
Ich kriege das Schwein , hätte Liv aber am liebsten von ihr gehört. Ein entschlossenes Statement, das über reines Fragenstellen und Abheften von Beweisen hinausging. Denn das hatte bisher nicht allzu weit geführt.
Rachel begleitete sie in den Empfangsbereich zu Daniel und blieb vor ihm stehen. »Wolltest du mich sprechen?«
Er blieb völlig gelassen. »Nein, ich bringe Liv ins Büro zurück.«
Die Kommissarin sah zwischen ihnen hin und her. »Hast du sie hierhergefahren?«
»Ja.«
»Daniel, das ist eine polizeiliche Angelegenheit.«
»Darum habe ich sie auch direkt zu dir gebracht.«
Rachel sagte ein paar Sekunden lang nichts und wandte sich dann an Liv. »Ich bin die ganze Woche auf meinem Handy zu erreichen, aber wählen Sie den Notruf, wenn Sie sich um Ihre Sicherheit sorgen. Okay, Livia?« Sie sah Liv fragend an und vergewisserte sich, dass sie sie verstanden hatte.
Liv schnallte sich im Auto an und murmelte dann: »Was war das
Weitere Kostenlose Bücher