Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
Enttäuschung.
Er sah wieder auf seine Uhr. Welche Frau veranlasste Daniel Beck wohl dazu, pünktlich sein zu wollen? »Eine Geburtstagsfeier, sie fängt früh an, weil das Geburtstagskind um neun im Bett sein muss.«
Mit ihm? »Oh, nett …«
Er kicherte. »Nein, nicht was Sie denken. Es ist ein Abendessen im Kreis der Familie, meine Nichte wird heute sechs.«
»Da dürfen Sie auf keinen Fall zu spät kommen. Ich hoffe, Sie haben ihr etwas Tolles gekauft.«
»Einen Fußball.« Er verzog unsicher das Gesicht. »Ich habe gedacht, das wäre vielleicht cool, aber jetzt fürchte ich, dass es nicht mädchenhaft genug ist.«
Wie süß, dass ein sechsjähriges Mädchen sein Vertrauen so sehr erschüttern konnte. Sie hätte ihm am liebsten gesagt, dass nicht das Geschenk, sondern das Familienfest zählte, an das seine Nichte sich ein Leben lang erinnern würde. »Mädchenkram ist total überbewertet. Sie wird begeistert sein.«
»Das hoffe ich, denn mehr habe ich nicht.«
Du hast viel, Daniel. »Gehen Sie ruhig.«
Er sah sich zuerst noch einmal prüfend im Zimmer um. Dann sah er sie an – er musterte sie förmlich. Als er bei ihrem Gesicht war, hielt sie ihm die Hand hin. »Es geht mir gut.«
»Wie viel Wein haben Sie noch?« Er deutete mit dem Kopf auf die Flasche.
»Fürchten Sie, ich werde mich bis zur Besinnungslosigkeit betrinken?«
»Vielleicht ein wenig.«
»Ein verlockender Gedanke, aber ich bleibe lieber wachsam und zu allem bereit, damit ich schnellstens verschwinden kann.«
»Das geht mit einer Flasche Wein intus nur schlecht.«
»Genau das dachte ich mir auch.«
Er nickte.
»Habe ich sie bestanden?«, fragte sie.
»Was bestanden?«
»Die Prüfung, der Sie mich unterzogen haben.«
Langsam zog er einen Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln hoch, als sei er ertappt worden. »Ja, Sie haben bestanden.«
»Schön, dann können Sie ja gehen und Ihrer Nichte alles Gute zum Geburtstag wünschen.«
Sie begleitete ihn zur Eingangstür und blieb mit einer Hand am Türgriff stehen, weil sie eine Unterhaltung zwischen Tür und Angel vermeiden wollte – falls da draußen jemand war, der zusah. Sie drehte sich ruckartig um und stieß dabei mit Daniel zusammen. Einen kurzen Augenblick drückten ihre Brüste gegen seine breite Brust, dann stieß sie mit ihrer verletzten Schläfe gegen seine Schulter, als er ihre Arme packte. Der Duft von Waschpulver, der von seinem frischen T-Shirt ausging, hing zwischen ihnen.
»Autsch!« Sie fasste sich an die Wange, sah ihm erstaunt in die Augen und ein kurzes, unerwartetes Zucken regte sich unter ihren Rippen. Das Gefühl erstaunte sie so sehr wie der Zusammenstoß. Sie hatte ihr ausgebranntes Herz bereits abgeschrieben und nicht geglaubt, je wieder solche Regungen zu verspüren.
Während Daniel sie noch einen Augenblick länger als nötig festhielt, betrachtete sie seine rauen Bartstoppeln und die feinen Linien auf seinen Lippen. Als ihr Blick zu seinen dunklen Wimpern hinaufglitt, bemerkte sie, dass sich sein Blick auf ihren Mund konzentriert hatte. Und dort verweilte. Es war besser, sich von ihm zu lösen, sagte sie sich. Ihm zu verstehen zu geben, dass dies eine Sackgasse war. Doch sie tat es nicht.
Es war auch nicht nötig, denn er trat zwei Schritte zurück und sagte dann lachend: »Tut mir leid.«
Was immer er gesehen hatte, es musste jeden anderen Gedanken ausgelöscht haben. Oder vielleicht hatte er auch nie einen anderen Gedanken gehabt. Vielleicht war ja nur sie so bedürftig.
»Nein, meine Schuld«, sagte sie. »Ich wollte mich noch mal bedanken, dass Sie so kurzfristig vorbeigekommen sind.«
»Jederzeit. Und das meine ich auch so. Ich wohne nur fünf Minuten von hier entfernt, auf der anderen Seite der Sportplätze. Das Abendessen findet bei meiner Schwester statt, sie wohnt zehn Minuten von hier entfernt. Rufen Sie mich an, wenn irgendetwas ist.«
Sie nickte und öffnete die Tür.
»Oder wenn Sie einfach nur anrufen wollen«, sagte er hinter ihrem Rücken.
Vielleicht sollte sie ihm das erklären. Er war ein netter Kerl, sie wollte nicht, dass er dachte, es läge an ihm. »Danke.«
Draußen war es bereits dunkel. Sie blickte über das Licht auf der Veranda hinaus, konnte aber nur die Einfahrt, den Zaun und das Reihenhäuschen auf der anderen Seite sehen.
»Vergessen Sie nicht, hinter mir abzuschließen«, sagte er.
»Machen Sie Witze?«
Sie konnte den unausgesprochenen Gedanken auf seinem Gesicht nicht deuten, als sie die Tür schloss und
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