Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
konnte, was sie eventuell auf der anderen Seite erwartete. Sie war seit Stunden zu Hause. Würde sich jemand so lange in der Garage verstecken? Und wozu? Was sollte das Ganze überhaupt? Sie nahm den Schirm, den Sheridan letzte Nacht geschwungen hatte, schob den Riegel beiseite und stieß die Tür auf. Sie knipste das Licht an, spähte nach rechts und links, rannte zum Auto und sperrte sich ein. Der Motor lief, noch bevor sich das Garagentor ganz geöffnet hatte, sie sah in den Rückspiegel und machte sich auf einen Schatten oder Umriss in der Einfahrt gefasst, der sich jeden Augenblick aus der Dunkelheit auf sie stürzen würde. Doch außer den Lichtern, die aus ihrem Haus drangen, war nichts zu sehen.
Sie heftete ihren Blick auf die Straße vor und hinter sich. Es war mehr Verkehr, als sie vermutet hätte, aber niemand schien ihr zu folgen. Die Parkmöglichkeiten beim Krankenhaus waren denkbar schlecht – entweder man fuhr ins mehrstöckige Parkhaus, oder man parkte auf der dunklen Straße, die um den Komplex herumführte. Liv drehte eine schnelle Runde um das massige Gebäude und hoffte, mit ein wenig Glück einen hellen Parkplatz in der Nähe des Eingangs zu ergattern. Fehlanzeige. Sie löste ein Ticket am Parkscheinautomaten, und ihr Herz raste, als sie schnell über die Parkdecks fuhr. Sie standen zu einem Drittel voller Autos, vermutlich, weil am Freitagabend viel los war. Sie wollte einen gut beleuchteten Parkplatz in der Nähe des Ausgangs und der Straße, damit sie losrennen konnte, wenn es nötig war.
Sie nahm den Schirm mit, schloss den Wagen ab und sah sich nach beiden Seiten um. Niemand war zu Fuß unterwegs, niemand stieg in ein Auto oder verließ es. Sie rannte den ganzen Weg bis zu der Stelle, an der Jason sie vor vier Nächten abgeholt hatte. Dann holte sie tief Luft, ging durch die Glastür, sah erschöpft nach draußen und lief die Gänge zur Notaufnahme entlang.
Sheridan war bereits im OP. Herrgott, im OP! Liv setzte sich auf eine Stuhlkante, rief Kelly an und erzählte ihr, was sie erfahren hatte. Sheridan hatte multiple Frakturen am rechten Bein, ein paar gebrochene Rippen und Verletzungen an Lunge, Arm und Schulter. Am meisten beunruhigend war jedoch eine Kopfverletzung.
»Was für eine Kopfverletzung?«, fragte Kelly.
»Ich weiß es nicht. Man wollte es mir nicht sagen. Ich meine, eine Kopfverletzung kann alles Mögliche bedeuten, von einem Schlag bis … bis zum Gehirnschaden«, sagte Liv.
»Sag so was nicht. Denk es noch nicht einmal.«
»Ja, ja, du hast ja recht.« Liv lief den Flur auf und ab. »Ich habe heute Abend in meinem Briefkasten eine Karte von dem Stalker gefunden.« Sie hörte, wie Kelly scharf die Luft einsog. »Er hat geschrieben, dass es überall und jederzeit passieren kann und er es mir schon zeigen wird. Ich muss ständig daran denken, dass Sheridan …« Sie presste ihre Stirn an die Plastikverkleidung an der Wand.
»Herrgott, Liv. Hast du die Polizei verständigt?«
»Natürlich habe ich die Polizei verständigt«, zischte sie. »Tut mir leid. Es tut mir leid. Ich bin nur … Andy hat gesagt, dass Sheridan gegen einen Baum gefahren ist. Sonst war offensichtlich niemand am Unfall beteiligt. Aber Sheridan hat das Interview mit mir gemacht. Vielleicht ist er …«
Kelly unterbrach sie, noch bevor sie den Satz beenden konnte. »Liv, lass das! Sie ist vor einen Baum gefahren. Ein furchtbarer, ein schrecklicher Zufall. Mehr nicht.«
Das hatte sie auch schon nach dem Einbruch gesagt. Liv hatte auf dem Weg hierher die ganze Zeit versucht, sich dasselbe einzureden, aber ihre innere Unruhe nahm zu. Sie bat Kelly nicht, zum Krankenhaus zu kommen, weil es keinen Sinn hätte, wenn sie beide auf dem Gang säßen, versicherte ihr aber, dass sie ihr Bescheid geben würde, sobald sie mehr wusste. In einem Krankenhausflur war sie in Sicherheit. Natürlich.
Jason schickte ihr eine Nachricht. Ruf an, wenn du Gesellschaft brauchst . Dann noch eine: Erklär ihnen deine Verletzungen, damit sie dich nicht gleich dabehalten! Sie musste kurz lächeln.
Sie dachte an Daniel. Oder wenn Sie einfach nur anrufen wollen . Wollte sie nicht.
Um elf Uhr zwanzig rief Andy vom Sydney Airport aus an. Sie saß zusammengesunken auf einem Stuhl, als er kurz vor ein Uhr im Krankenhaus ankam. Er hatte auf der Autobahn offenbar alle Geschwindigkeitsrekorde gebrochen. Andy musste zweimal hingucken, als er Livs Gesicht sah. Sheridan hatte ihm zwar von dem Überfall erzählt, doch die Verletzungen sahen
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