Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
sich, aber über heute Abend machte sie sich auch keine Gedanken.
»Am Montag kommt mein Sohn wieder zu mir. Ist er hier sicher?«
Rachel steckte Notizblock und Stift in ihre Tasche und schob sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Sie sind hier in Sicherheit, außerdem weiß die Polizei Bescheid. Sie haben alles richtig gemacht, um sich und Ihren Sohn zu schützen.«
»Und das Büro. Und Sheridan. Ich …« Liv blickte zur Scheibe hinten im Raum und dachte an den dumpfen Knall, den der Teenager vor zwei Nächten bei seinem Sprung verursacht hatte. Was hätte sie getan, wenn Cameron statt Sheridan bei ihr gewesen wäre? »Rachel, haben Sie Kinder?«
Sie lächelte. »Einen vierjährigen Buben.«
»Was würden Sie tun?«
Sie antwortete, ohne zu zögern, etwas Stählernes lag in ihrer Stimme: »Wenn ich an Ihrer Stelle wäre und nicht wüsste, was los ist, würde ich ihn nicht aus den Augen lassen.«
Liv wusste, warum sie plötzlich einen so harten Ton in der Stimme hatte – den hätte jede Mutter gehabt. Doch es lagen eine Entschlossenheit und Hartnäckigkeit darin, die Liv hoffen ließen, dass Rachels Anmerkungen auf den Fotokopien und ihre endlosen Fragen irgendwo hinführten – auch wenn das Wohin ihr Angst machte.
An der Tür wandte sich Rachel noch einmal um. »Meiner Erfahrung nach folgen Stalker ihrem eigenen Plan. Keiner weiß, wie er aussieht, man kann keine Schlussfolgerungen ziehen. Ich weiß lediglich, dass der Kerl morgen wieder verschwunden oder noch jahrelang präsent sein kann.«
»Jahrelang! Dieses Schwein könnte mich noch über Jahre beobachten?«
Die Polizistin hob beschwichtigend die Hände. »Hören Sie, damit will ich nur sagen, falls Sie überlegen, Ihren Sohn irgendwo anders unterzubringen, dann stellen Sie sich darauf ein, dass es für eine längere Zeit sein könnte. Es sind erst fünf Tage vergangen. Wir wissen noch nicht, wie sich das Ganze entwickeln wird. Es könnte genauso gut sein, dass der Mann von Ihnen ablässt, wenn er Sie mit einem Kind sieht. Oder er schickt Ihnen nur Botschaften, wenn Ihr Sohn nicht da ist.« Ihre Stimme wurde sanfter. »Ich verstehe Ihre Sorge und kann Ihnen auch nicht sagen, was Sie tun sollen, aber Sie haben darum gekämpft, Ihren Sohn bei sich zu behalten. Liv, Sie sind eine starke Frau. Lassen Sie nicht zu, dass dieser Kerl Sie zu unüberlegten Handlungen veranlasst, die Ihr Mann nachher vielleicht nicht mehr rückgängig macht.«
Liv verriegelte die Tür, prüfte die Schlösser des Hintereingangs und spähte durch die Vorhänge in den grau verhangenen Garten. Der Hund war draußen, bellte aber gerade nicht, trotzdem wirkte es alles andere als friedlich.
Der Gedanke, noch eine Woche ohne Cameron zu sein, war unerträglich. Falls Thomas irgendwas mit dieser Sache zu tun hatte, würde sie ihm das nie verzeihen. Vielleicht würde sie sich sogar zu etwas Schlimmerem hinreißen lassen. Und falls er nichts damit zu tun hatte und sie ihn bat, Cameron noch ein paar Tage zu behalten, solange die Polizei den Stalker suchte, würde er das dann ausnutzen, um mehr Zeit mit Cameron auszuhandeln? Oder sogar versuchen, das volle Sorgerecht für ihn zu bekommen? Er war ihr das vergangene Jahr äußerst feindlich entgegengetreten, es war also durchaus möglich. Sie schloss die Augen und unterdrückte die aufkommende Übelkeit. Sie durfte Cameron nicht verlieren. Das würde sie nicht überleben. Sie musste sich vor seiner Rückkehr zusammenreißen. Also tu was, Liv. Herumstehen und sich Sorgen machen hilft auch nicht weiter.
Sie holte ihr Handy und erledigte ein paar Anrufe. Cameron war als Erster dran. Sie jauchzte, als er ihr das Spiel nacherzählte, und widerstand dem Drang, ihm zu erzählen, dass sie dort gewesen war und ihn bewundert hatte.
Andy war nach Hause zu seiner Tochter und dann wieder ins Krankenhaus gefahren, er klang müde und angespannt. Er sagte, die Ärzte wollten Sheridan bald aus dem künstlichen Koma holen. »Liv, ich habe sie noch nie so lange regungslos gesehen. Ich kann gar nicht glauben, dass sie da im Bett liegt.« Die Polizei hatte ihm von dem Stein erzählt, der ihre Windschutzscheibe durchschlagen hatte, doch einen Stalker hatte sie nicht erwähnt, Liv sagte auch nichts. Sie machte sich sowieso schon genug Sorgen und hatte unerträgliche Schuldgefühle.
Die Stimme ihres Vaters klang gepresst. Sie wünschte, sie wäre eine bessere Lügnerin und könnte ihm an diesem Abend mehr als nur eine ängstlich angespannte Stimme bieten –
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