Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
letzten beiden Briefe hier zu Hause?«, fragte Rachel.
Ja, und sie kommen mir vor wie Giftmüll, dachte Liv.
Sie holte sie aus der Küche und überreichte Rachel die beiden Plastikhüllen. Während Rachel sich Vorder- und Rückseite ansah, setzte Liv sich neben sie und warf einen Blick auf die Kopien, die Rachel vor sich auf den Couchtisch gelegt hatte. Es waren die vier ersten Nachrichten in chronologischer Reihenfolge. Sie hatte sie auf der Schreibtischunterlage verkleinern lassen, sodass sie jetzt auf ein DIN -A4-Blatt passten. Jeder Drohbrief war mit verschiedenfarbigen Notizen am Rand versehen, als habe Rachel sie sich immer wieder durchgelesen und jedes Mal einen anderen Stift benutzt. Sie hatte einzelne Worte unterstrichen oder umrandet, mit Fragezeichen und Strichen versehen. Rachel hatte also mehr getan, als nur Fragen zu stellen.
»Mails haben Sie immer noch keine erhalten?«, fragte sie.
Liv hatte im Café ihre Mails am Handy aufgerufen. »Nein. Was hat das, glauben Sie, zu bedeuten?«
»Vielleicht kennt er sich nicht so gut mit Computern aus, das könnte ein Hinweis auf sein Alter sein. Oder vielleicht weiß er nicht, wie man Mails verschickt, ohne den Absender preiszugeben. Vielleicht will er Ihnen aber auch nur zeigen, wie nah er Ihnen kommen kann.«
Eine Nachricht oder eine Mail konnte er von überall losschicken und dann behaupten, er sei in ihrer Nähe gewesen. Doch wenn er einen Zettel persönlich bei ihr zu Hause abgab oder an ihrem Auto hinterließ, bestand kein Zweifel. »Haben Sie keine Profiler oder etwas Ähnliches für solche Fälle?«
»Wir arbeiten gelegentlich mit Profilern zusammen, aber das hier ist eine Kleinstadt. Wir haben nicht die nötigen Mittel und rufen Spezialisten nur in dringenden Fällen.«
Für Liv fühlte sich ihr Fall aber dringend an. »Und das wäre?«
»Bei Mordfällen.«
Mist.
Rachel legte Foto und Karte zu den anderen Unterlagen auf dem Couchtisch. »Keine der Nachrichten liest sich wie eine direkte Drohung. Nirgends steht, dass er vorhat, Sie zu verletzen. Er deutet es zwar an, aber für mich wirkt es eher so, als wollte er Ihnen nur begreiflich machen, dass er es könnte, wenn er es wollte.«
»Will er mir beweisen, dass ich ihn im Parkhaus nicht bezwungen habe?«
»Kann sein.« Sie zeigte auf den ersten Brief. »Die Tatsache, dass er hier Ihren Namen benutzt hat, lässt vermuten, dass er Sie schon vor dem Überfall kannte. Diesen Zettel haben Sie gefunden, bevor das Interview ausgestrahlt wurde.«
»Er benutzt immer meinen vollen Namen.«
»Der Name ist nicht gerade alltäglich.«
»Oft werde ich Olivia genannt. Die Leute vermuten, dass ich so heiße, oder verstehen meinen Namen falsch. Vielleicht will er damit sagen, dass er weiß, dass ich nicht Olivia heiße. Dass er mich persönlich kennt.«
»Daniel nennt Sie Liv.«
Sie betrachtete die Beweise und blickte Rachel argwöhnisch an, als sie Daniel erwähnte. »Meine Freunde nennen mich Liv. Aber ich stelle mich nicht so vor, die Leute hören meistens, dass andere mich so nennen, und greifen es auf. Also ist er vielleicht nicht nah genug herangekommen, um es zu wissen.« Sie seufzte. »Oder vielleicht gefällt ihm einfach der Klang von Livia. Oder vielleicht braucht es mehr als drei Buchstaben, um sein Interesse zu wecken.«
Rachel wiegte ihren Kopf hin und her, als bewegte sie einen Gedanken in ihrem Kopf. »Könnte ich Sie auch Liv nennen?«
Liv zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Rachel hatte nicht mehr wie ein Cop im Dienst geklungen, als sie die Drohbriefe durchgingen, nun aber hörte es sich an, als wäre jeder Kommentar Teil der Ermittlungen. Und Liv war in den vergangenen eineinhalb Stunden klar geworden, dass jede Frage noch eine weitere, unausgesprochene enthielt. Die letzte Frage klang wie »und welchen Status habe ich?«, doch formuliert hatte sie es wie eine Freundschaftsanfrage. Versuchte sie etwa herauszufinden, wie schnell Liv flüchtige Bekannte als Freunde bezeichnete? Überlegte sie, ob der Stalker nur darauf wartete, in ihren Freundeskreis aufgenommen zu werden? Oder war das ein Angebot? Sie wusste es nicht, sagte aber: »Ja, natürlich. Ich würde mich freuen.«
Rachel nickte, als sei das die richtige Antwort. »Okay, schön. Das war’s erst mal.«
Als sie aufstanden, versank langsam die Sonne hinter dem Dach des Nachbarhauses und warf lange Schatten, die bis in den Garten reichten. Liv zog die Vorhänge zu. Heute Abend wird er mich nicht zu Gesicht bekommen, sagte sie
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