Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
ihm versichern, dass sein einziges Kind glücklich war. Oder wenigstens neben seinem Bett sitzen. Ihr Stalker ließ sich eine ganze Menge zuschulden kommen.
Als sie endlich Kelly anrief, hatte sie Kopfschmerzen, und ihr Herz schien zu zerspringen. Sie wollte über den Bericht des Steuerberaters reden. Aber Kelly war mit ihrer Schwester im Kino. Jason war mit den Mädchen zu Hause, damit sie einen freien Abend ohne Kinder genießen konnte. Liv überlegte, ob da etwas dahintersteckte, dann fiel ihr ein, dass die meisten Leute das so machten. Im normalen Leben.
»Wie geht es dir? Konntest du dich heute ein wenig entspannen?«, fragte Kelly laut, damit man ihre Stimme über den Lärm im Kinofoyer hörte.
Das war kaum der richtige Zeitpunkt, um ihr die Gründe aufzuzählen, weshalb sie nicht entspannt war. »Es geht mir gut. Wir müssen uns unterhalten, Kelly.«
»Ja, machen wir. Ich rufe dich morgen an.«
Liv hatte erwartet, dass sie wieder ausweichen würde, sie legte auf, fühlte sich aber unruhiger als vor ihrem Anruf.
Zuletzt rief sie Jason an. Soweit sie wusste, hatte er keine neuerlichen schlechten Nachrichten parat, keinen drohenden Konflikt, ihm gegenüber musste sie sich nicht traurig oder schuldig fühlen oder besorgt sein. Sie hielt sich nicht mit einer Begrüßung auf. »Sag was Nettes. Ich muss unbedingt was Nettes hören.«
»Ich habe den ganzen Tag an dich gedacht.«
Die Unmittelbarkeit dieser Aussage trieb ihr die Tränen in die Augen. »Mein Gott, Jase, das ist viel zu nett. Ich dachte eher an was Lustiges. Kannst du was Lustiges sagen?«
»Schweinegrunzen oder einen Klopf-klopf-Witz? Kurzfristig wären das die Alternativen.«
»Schweinegrunzen?«
»Ja. Die Kinder finden mein Schwein lustig.«
Sie hörte ein Schnüffeln und Grunzen am Telefon, stellte sich vor, wie er sein Gesicht verzog und nach Trüffeln schnüffelte, und musste laut lachen. »Danke. Das war großartig. Etwas seltsam, aber großartig.«
»Liv, was ist los?«
Sie erzählte ihm, dass sie zu Camerons Fußballspiel gegangen war, von Michelle, dem Foto, der Beobachtung, von Rachel und dem platt gedrückten Unkraut. Von den Sorgen in der Firma erzählte sie nichts – das ging nur sie und Kelly etwas an. Es laut auszusprechen, verschaffte ihr Erleichterung. Sie weinte nicht, aber Ärger und Enttäuschung wollten nicht weichen.
»Möchtest du herkommen?«, fragte er.
Sie schloss die Augen, stellte sich das Wohnzimmer der Familie vor – warm, einladend, gemütlich. Das ganze Paket, das auch Liv sich gewünscht hätte. Sie freute sich, dass die beiden glücklich miteinander waren, aber eine glückliche Familie war an diesem Abend mehr, als sie ertragen konnte. »Danke, aber ich bin erschöpft. Ich habe kaum geschlafen und wäre eine schreckliche Gesellschaft.«
»Du stellst dein Licht unter den Scheffel.«
»Würdest du mich morgen zum Krankenhaus begleiten?« Sie wollte moralische Unterstützung – wegen Andy und wegen dem Parkhaus.
»Natürlich. Wann immer du mich brauchst.«
Die Art und Weise, wie er das sagte, klang ein wenig eigenartig, aber vielleicht interpretierte sie auch zu viel hinein. Vielleicht konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. »Danke.«
Sie legte auf, die Stille des Häuschens senkte sich herab. Ihr Kopf pochte, ihr Körper schmerzte, und ihre Augen brannten. Sie sollte etwas essen, duschen, doch das Sofa war zu einladend. Das weiche Leder umschloss sie, als sie sich unter der Decke zusammenrollte, die sie mit hinuntergenommen hatte. Sie legte ihren Kopf auf die Armlehne und gab sich der Erschöpfung hin.
Als sie erwachte, war es dunkel im Haus, nur die Außenbeleuchtung schien durch die Vorhänge. Sie hatte länger geschlafen, als sie erhofft hatte, die beste Erholung seit einer Woche. Als sie ihre Beine ausstreckte und sich aufsetzte, bemerkte sie etwas aus dem Augenwinkel.
Sie erstarrte. Eine halbe Minute starrte sie auf die weißen Vorhänge. Nichts bewegte sich. Vielleicht waren es ihre Augen. Sie hatte tagelang kaum geschlafen, das Lid ihres unverletzten Auges hatte den ganzen Tag lang immer wieder leicht gezuckt.
Dann fing der Hund nebenan zu bellen an, einen Augenblick später war sie auf den Beinen. Ihr Kopf dröhnte, während Benny wie wild bellte. Mist, Mist.
Sie dachte an das platt gedrückte Unkraut im Garten, lief auf Zehenspitzen zum Baseballschläger, der an der Wand lehnte, und packte ihn mit beiden Händen. Was jetzt? Sie wäre am liebsten so schnell wie möglich verschwunden,
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