Ich kann so nicht mehr arbeiten!: Freude und Sinn statt Seeleninfarkt (German Edition)
keine Arbeit mehr hatte, weil sich die Arbeitsinhalte gewandelt hatten. Die allermeisten freuten sich über meine Besuche, fühlten sich wertgeschätzt und begannen alles offen anzusprechen, was ihnen auf der Leber lag. Diejenigen, die faktisch arbeitslos waren, spielten aus Angst um die eigene Zukunft Theater. Alle wussten, wer Däumchen drehte, aber keiner wagte es anzumerken, aus Loyalität gegenüber den Kollegen oder zumindest, um nicht als Verräter dazustehen. Ich begriff lange nicht, warum Loyalität im Sinne von Erdulden in vielen Unternehmen wichtiger war als Leistung und warum vor allem Manager krampfhaft in Leitungsfunktionen gehalten wurden, für die sie charakterlich und von ihrem Führungsverhalten aus meiner Sicht ungeeignet waren.
Noch mehr wunderte ich mich über ein weiteres Phänomen. Erstaunlich viele Mitarbeiter gaben die Verantwortung für das eigene Leben morgens an der Eingangstür der Reederei an den Arbeitgeber ab. Man ließ geduldig alles mit sich machen, inklusive regelmäßig verbal zusammengefaltet zu werden oder, wie ein Fahrtgebietsleiter sich ausdrückte, »eins in die Wäsche zu bekommen«. Im Gegenzug erwartete man einen sicheren Arbeitsplatz. Der einzige Kündigungsgrund, den es damals gab, war das Stehlen von goldenen Löffeln.
Auf meinen Streifzügen durch das Gebäude begegnete ich zahlreichen Menschen mit monotonen Gesichtszügen wie im Wachsfigurenkabinett. Sie bemühten sich zuallererst darum, keine Fehler zu machen und im Räderwerk als kleines Rädchen nicht aufzufallen. Sobald die Stunden abgeleistet waren, bloß raus aus dem Gebäude. Spaß stand ihnen am Arbeitsplatz nun wirklich nicht ins Gesicht geschrieben. Gleichzeitig engagierten sich viele in ihrer Freizeit mit Herzblut für Hilfsprojekte in der dritten Welt, Sportvereine, karitative Einrichtungen und den Betriebssport. Wie passte das zusammen? Wie viel besser könnte ein Unternehmen dastehen und die Zukunft aller sichern, wenn die Menschen dieses Herzblut und Engagement auch täglich in ihre Arbeit fließen lassen könnten? Zunächst machte das für mich überhaupt keinen Sinn.
Mit der Zeit durchschaute ich, dass man als Manager aus zwei Gründen groß rauskommen kann. Weil man andere durch Leistung und Einsatz überragt, oder weil man andere möglichst klein hält, sie wenig bis gar nicht fortbildet, ihnen Informationen vorenthält und beständig unterfordert. Ich traf auf so viele Menschen, die zu weitaus mehr fähig und auch willig waren, aber dennoch nicht aufbegehrten oder das Unternehmen verließen. Wie konnte das sein?
Besonders faszinierte mich die hausinterne Buschtrommel, die Gerüchteküche des Konzerns. So etwas hatte ich bisher in dem Ausmaß noch nicht kennengelernt. Wie viel Energie hier floss, zischte, brodelte, kochte und wieder im Nichts verebbte. Wie deutlich wurden die Fehler und Charaktereigenschaften der anderen unter das Mikroskop gelegt, seziert, kommentiert und in alle Abteilungen und Fahrtgebiete der Reederei getragen. Unzählige Stunden verbrachten die Menschen damit, sich über »ich weiß nicht wen und was auch immer« aufzuregen. Es dauerte keine drei Tage und auch ich hatte meine Buschtrommel-Klassifizierung weg. Wo ich auch auftauchte, jeder bekundete, schon von mir gehört zu haben. Nur was, das erfuhr ich zunächst nicht. Erst Jahre später verstand ich, dass nur diejenigen, die sich selbst kennen und annehmen können wie sie sind, kein Bedürfnis mehr verspüren, von sich selbst abzulenken, indem sie über Dritte sprechen.
Wie viele emotionale Wunden wurden täglich Kollegen zugefügt, ohne dass sich die Akteure das Geringste dabei dachten. Kettenmails mit gegenseitigen Anschuldigungen landeten in meiner Mailbox, mit der Aufforderung, zu entscheiden, wer recht hatte. Als ich mich weigerte und die Streithähne bat, gemeinsam eine Entscheidung zum Wohl des gesamten Unternehmens zu treffen, wurde ich selbst zur Zielscheibe. Wie konnte diese Frau so halsstarrig die Spielregeln verändern wollen?
Den meisten Managerkollegen in der Reederei war mein Führungsstil, gelinde gesagt, suspekt. Mein Drang, ständig alle Steine herumzudrehen und nach Wegen zu suchen, besser, sinnvoller und mit Spaß zu arbeiten, war nicht erwünscht. Zu vielen Kollegen kam ich in genau das Gehege, das sie sorgfältig gegen Einblicke von anderen abzuschirmen suchten. Eine wesentliche Aufgabe unserer Crew bestand darin, die Deckungsbeiträge der Exportaktivitäten in Europa zu verbessern, während die
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