Ich kann so nicht mehr arbeiten!: Freude und Sinn statt Seeleninfarkt (German Edition)
wetterfeste Seebären in Managementpositionen präsentierten mir das große Bild der Containerlinienschifffahrt. Wie funktioniert diese Branche? Was sind die Stellschrauben zur Steuerung des Geschäfts und wie wird daran gedreht? Wer sind die Hauptakteure und deren Repräsentanten?
Ich blühte auf und kam abends zeitiger nach Hause als früher. Mein Mann freute sich, weil ich wieder Zeit und Energie für gemeinsame Freizeitaktivitäten hatte. Von morgens kurz nach sieben schwebte ich mit Enthusiasmus durch meine Arbeitstage in der Reederei, denn hier konnte ich sehr viel mehr von dem ausleben, was mein Wesen ausmacht: die Zukunft antizipieren und gestalten sowie Menschen führen, zusammenführen und miteinander für ein gemeinsames Ziel arbeiten lassen. Zwar galt es eine Flut von Einzelheiten zu lernen, intellektuell war das Geschäft jedoch weit weniger anspruchsvoll als meine Tätigkeit als Wirtschaftsanwältin. Die Menschen um mich herum besaßen eine enorme Fach- und Detailkenntnis. Sie taten sich hingegen schwer damit, die großen Zusammenhänge zu sehen, im Auge zu behalten und daraus eigenverantwortlich Neues zu entwickeln. Nach vier Wochen lehnte mein Chef im Türrahmen meines Büros und fragte: »Sind Sie so intelligent oder ist Schifffahrt so einfach?« Aus seiner Sicht begriff ich zu schnell, lernte zu schnell und mischte mich mit präzise formulierten Fragen ein. Das passte nicht in sein gewohntes Bild. Mir hingegen war seine Frage extrem peinlich und ich lief rot an. Die Art, wie sie gestellt war, ließ mir keine Möglichkeit, meine Wertschätzung für das auszudrücken, was die Menschen im Unternehmen leisteten. Sie bestätigte nur, dass ich anders tickte als die meisten um mich herum und ich mich nicht wirklich in Resonanz mit meinem beruflichen Umfeld befand. Ich nutzte meine Fähigkeiten zur Menschenführung und zum analytisch strategischen Denken. Dafür hatte mich das Unternehmen eingestellt. Aber als ich es tat, war es den Vorgesetzen zu unbequem und einigen Kollegen zu gefährlich. Mein Verhalten rüttelte zu sehr an althergebrachten Denk- und Arbeitsweisen, legte Kellerleichen und Baustellen bloß. Andererseits eröffnete mir der Aufenthalt im Konzern viele Einsichten, warum leistungswillige Menschen im Hamsterrad landen und es nicht einmal bemerken. Im Grunde stellte ich fest, dass all diese Menschen nicht wussten, wer sie wirklich sind und welche Macht dieses Wissen ihnen verleihen würde – Macht über sich selbst und ihren Berufsweg. Sie waren damit zufrieden, sich Geld und Ansehen zu verdienen und einen sicheren Arbeitsplatz zu haben. Ich hingegen war seit meiner Begegnung mit Professor Han und vor allem nach dem physischen Kollaps auf der Suche nach meinem Wesen und stellte mir vor allem die Frage: »Wer bin ich?«
Mir war zunächst nicht bewusst, dass man mir meine Abneigung gegenüber allem, was mein Umfeld von einem Vorgesetzten zu erwarten schien, sehr deutlich ansehen konnte. Ich war innerlich nicht bereit, die Rolle der Vorgesetzten zu spielen, die im Konzern vorgelebt und praktiziert wurde. Eine besondere Aversion hatte ich gegen einige meiner Kollegen, deren dunkelblaue Anzüge mit den unsichtbaren Ärmelstreifen eines Ersten Offiziers, Kapitäns oder sogar Admirals dekoriert waren. In ihrem Kielwasser schwamm ein überheblicher Unterton gegenüber all jenen mit, denen sie in ihrem Dünkel weniger Streifen am Ärmel zugestanden. Auch ärgerte mich, dass viele Menschen, denen das Unternehmen Macht anvertraut hatte, und war sie auch noch so klein, diese Macht in erster Linie nutzten, um sich selbst etwas Gutes zu tun oder gut dazustehen. Erst kamen sie selbst, dann der Kunde, dann die Eigentümer der Reederei und dann der Rest.
Und wie konnte ein Unternehmen finanziell gut dastehen, wenn es einer nicht unerheblichen Anzahl von Menschen die Chance versagte, ihre Fähigkeiten voll zu entfalten, sie täglich einzusetzen und vor allem eigenverantwortlich zu handeln? Zu viele saßen jahrelang auf demselben Stuhl, taten immer das Gleiche und dachten immer das Gleiche. Viele hatten bereits innerlich gekündigt und harrten dennoch aus. Wenn ich nach dem Warum bestimmter Arbeitsabläufe und Handlungsweisen fragte, bekam ich stets zu hören: »Das machen wir schon immer so.«
Da ich meine Mitarbeiter häufig in ihren Büros besuchte, was für einen Vorgesetzten absolut unüblich war, merkte ich, wer sich bei seiner Arbeit verwirklichte, wer vor sich hindämmerte und wer eigentlich gar
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