Ich kann so nicht mehr arbeiten!: Freude und Sinn statt Seeleninfarkt (German Edition)
wollte, und meine Stärken entsprechend einsetzen. Andererseits konnte ich für die Branche und ihre Arbeitsinhalte kein Herzblut aufbringen. Deshalb befand ich mich nur teilweise mit dem Unternehmen in Resonanz. Betrachten wir das am Beispiel meiner Lehr- und Wanderjahre im Management etwas genauer.
In den Jahren als angestellte Managerin und unabhängige Aufsichtsrätin jagte ich meinen Führungsträumen nach und bekam dafür die Anerkennung der Außenwelt: Schulterklopfer, bewundernde Kommentare, Ansehen, Geld, Dienstwagen, Titel, Status, Beförderungen und immer wieder die Angebote anderer Unternehmen, zu ihnen überzuwechseln. Einige Jahre lang erschien mir all das erstrebenswert. Auch anderen gegenüber stellte ich es so dar und bekam entsprechende Rückmeldungen. Aus der Sicht vieler hatte ich es mehr als geschafft, schon gar als Frau. Was sie nicht wussten, mir aber schon sehr bald aufging: Mit all diesen Titeln, Positionen und Ämtern ist mehr Getöse und Großtuerei verbunden als tatsächliche Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen. Je größer der Laden, desto organisierter die Unverantwortlichkeit des Einzelnen für seine eigene Arbeitsleistung und desto verbreiteter das Ausharren in einer Position um scheinbarer Sicherheiten willen. Nachdem ich dieses Spiel eine Weile mitgespielt, lange genug im Zentrum der Aufmerksamkeit gestanden und die äußeren Zeichen des Erfolges kennengelernt und ausgekostet hatte, empfand ich diese Welt zunehmend als leer und hohl. Letztlich war sie das Resultat einer geschickten Selbstinszenierung, die aufgehübschte Jahresberichte, Kunden- und Mitarbeiterzeitungen wie Potemkinsche Dörfer einsetzte, um die gelebte Wirklichkeit als »heile Welt« darzustellen. Diejenigen, die hinter die Kulissen blicken konnten, spielten entweder mit oder wandten sich innerlich ab – so wie ich.
Meine Reise als angestellte Managerin führte mich zunächst in die Europazentrale der Reederei, mitten ins Herz eines deutschen Traditionsunternehmens. Da ich keinerlei Vorkenntnisse in der Containerlinienschifffahrt besaß und man mir dennoch die internationale Koordinationsfunktion in der Europazentrale anbot, musste ich über andere Fähigkeiten verfügen, die dem Unternehmen wertvoll erschienen: China-Erfahrung und entsprechendes Kulturverständnis, analytisch-strategisches Denkvermögen und die Fähigkeit, Menschen zu führen. Ich fokussierte meine Energie auf zwei Bereiche: erstens die wesentlichen Funktionsprinzipien des Unternehmens und der Branche zu verstehen und zweitens das Potenzial meiner rund sechzig Mitarbeiter durch gute Menschenführung zu entfalten. Über die Kunst und das Handwerk der Menschenführung hatte ich zuvor viele Bücher gelesen und daraus meine persönliche Strategie entwickelt:
Die richtigen Fragen stellen und die Mitarbeiter die noch wichtigeren Antworten finden lassen.
Jedem etwas zutrauen und Verantwortung übertragen.
Allen gut zuhören.
Menschen mit Potenzial Chancen geben, auch außerhalb des eigenen Verantwortungsbereiches.
Offenes und ehrliches Feedback geben und auch einfordern.
Dies entsprach meiner inneren Überzeugung sowie meiner Philosophie von Leistung und menschlicher Wertschätzung – und sorgte für Verwirrung. Einerseits machte es meinen Mitarbeitern Spaß, so arbeiten zu dürfen, und setzte ungeahnte Energien und Ideen frei. Andererseits waren sie an Vorgesetzte klassischen Zuschnitts gewöhnt: Menschen, die aufgrund ihres überlegenen Fachwissens und ihres Durchsetzungsvermögens in Führungspositionen befördert worden waren und die es bevorzugten, so viel wie möglich selbst zu entscheiden. Wie lange würde die unter meiner Leitung gelebte Freiheit anhalten? Noch waren sich meine Mitarbeiter nicht sicher, ob sie sich selbst verwirklichen und doch lieber vorsichtig sein und alles beim Alten lassen sollten.
Mich machten sie derweil mit dem Tagesgeschäft der Containerlinienschifffahrt vertraut und ich lernte von ihnen auch so einiges, was nicht zum offiziellen Wissen gehörte. Ich ging von Zimmer zu Zimmer und beobachtete dabei aufmerksam aus dem Augenwinkel, was außerhalb der Chefzimmer vor sich ging. Worüber unterhielten sich die Menschen? Wo lag der Fokus ihrer Arbeit und deckte er sich mit dem Fokus ihrer Energie? Was ärgerte sie? Wo brauchten sie einen Chef, der sich vor sie stellte und für sie eintrat? Was bereitete ihnen Freude? Waren sie von ihrer Arbeit erfüllt? Welche Sorgen und Nöte beschäftigten sie privat? Ältere Kollegen und
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