Ich kenne dein Geheimnis
Tränen
aus. Echte Tränen dieses Mal, denn die Anspannung forderte ihren Tribut. Dieser Skandal würde Pelori teuer zu stehen kommen,
die Wähler würden ihm die Quittung präsentieren. Für Smeralda war das eine Genugtuung, auch wenn es das, was er ihr angetan
hatte, nicht ungeschehen machen konnte. Jetzt ging es ihr schon viel besser. Sehr viel besser. Sie musste sich nur für den
Anruf wappnen, der sicher nicht lang auf sich warten lassen würde, sobald die Neuigkeit gedruckt wäre.
Die Schlagzeilen der Tageszeitungen überschlugen sich, genau wie Smeralda es erwartet hatte: »Wild West in Mailands High Society.
Politiker und Filmproduzent prügeln sich mitten in der Nacht auf offener Straße«, »Dolce Vita in Mailand: Smeralda Mangano
halbnackt«, und: »Hochrangiger Politiker in Sexskandal verwickelt«.
Seit jenem Abend, da Chiara beim Verlassen des Studios von Telestella geglaubt hatte, jemand würde sie verfolgen, konnte |274| sie keinen Schritt mehr tun, ohne sich ständig umzublicken. Sie hatte gehofft, dass sich das in Mailand ändern würde. Doch
trotz Personenschutz war das bedrohliche Gefühl, dass jemand hinter ihr her war, immer noch und ununterbrochen präsent. Sie
fürchtete, jeden Moment könne jemand aus einem Hinterhalt hervorschießen, genau wie die Eidechsen bei Großmutter Lia, die
urplötzlich aus einer Mauerritze aufgetaucht und in die Küche geflitzt waren.
Während sie ins Hotel zurückkehrte, kamen ihr die Brombeerhecken auf beiden Seiten des Weges zum Haus ihrer Großmutter in
Pieve Santo Stefano in den Sinn. Sie sah ihre Freundin Luisa vor sich, die spindeldürren Beine voller Kratzer und blutiger
Schrammen. Luisa lief auf sie zu, die Handflächen nach vorn gedreht, als wollte sie ihr zeigen, dass sie nichts zu verbergen
hatte. Wie versteinert war Chiara auf der Türschwelle stehen geblieben, die Augen fest auf diese Handflächen gerichtet, in
der festen Gewissheit, dass jeden Moment etwas Schreckliches geschehen würde. Auch heute, so viele Jahre später, konnte sie
sich noch daran erinnern. Sie spürte die Nähe des Todes, die sie unbewusst schon immer mit Luisa verbunden hatte. Dieses bedrohliche
Gefühl würde bestimmt verschwinden, wenn sie ihren Blick auf Luisas Gesicht richten und ihr inneres Auge von ihren Händen
lösen würde. Doch das, was sie dann sah, ließ sie erstarren. Sie schrie auf, der Zimmerschlüssel rutschte ihr aus der Hand.
»Signorina Bonelli, geht’s Ihnen gut?« Der Polizist, der sie begleitet hatte, kam auf sie zu und hob den Schlüssel auf.
»Ja, alles in Ordnung.«
»Sind Sie sicher? Soll ich Sie auf Ihr Zimmer begleiten?«
»Nein, danke. Es geht mir gut«, Chiaras Lächeln wirkte gezwungen.
|275| »Jedenfalls bleibe ich in Ihrer Nähe, falls Sie etwas brauchen, was auch immer es ist«, er musterte Chiara dabei mit einem
seltsamen Blick.
»Danke«, Chiara errötete. Jedes Mal, wenn sie jemand so ansah, verwandelte sie sich wieder in ein Kind. Ein Kind, das von
Visionen geplagt wurde und dem niemand glauben wollte. Wie hätte sie dem Polizisten erklären sollen, was gerade vor ihrem
inneren Auge abgelaufen war? Vielleicht sollte sie es Silvia erzählen? Das unbekannte kleine Mädchen mit den großen blauen
Augen kam ihr in den Sinn, dessen Foto in Silvias Büro hing. Es waren ihre Hände, die sie auf der Türschwelle des Hauses ihrer
Großmutter gesehen hatte, nicht die von Luisa. Nicht nur die Hände, auch das Gesicht des Mädchens war voller Blut, und das
Blut war überall, es quoll ihr sogar aus den Augen.
Auf der Magnettafel ihres Büros hatte Silvia Giorgini die für den Fall relevanten Fakten detailgenau dokumentiert: Fotos von
Yelena Markovich, alias Malena, und von Antonio Livraghi, dem Toten aus Venedig, darunter standen, rot unterstrichen, Orte
und Daten der Leichenfunde und, gelb hervorgehoben, wichtige Einzelheiten zu den Morden. Die Stichworte zu Livraghis illegalen
Machenschaften und die Verknüpfungen mit den Kinderpornografie-Fällen in Portugal waren in grüner Schrift notiert. Grün war
auch der Kreis, den Silvia um das Foto des unbekannten Mädchens gezogen hatte. In einer Ecke der Tafel hatte sie Phantombilder
von Malena und Livraghi befestigt: Mit Hilfe eines speziellen Computerprogramms waren die Gesichter und die Frisuren verändert
worden.
»Von wegen Laguna-Express. Wir kommen überhaupt nicht voran …« Silvia wandte ihren Blick von der Tafel ab. |276|
Weitere Kostenlose Bücher