Ich kenne dein Geheimnis
Chiaras Vorschlag, erst später mit dem Boss zu sprechen. So hatte sie wenigstens
etwas Zeit gewonnen.
Chiara verließ die Redaktion, den gelben Umschlag an die Brust gepresst. Würde Forte so skrupellos sein, auch ihr ganz persönliches
Drama für Werbezwecke zu missbrauchen? »Werde ich jetzt auch noch zynisch?«, fragte sie sich.
Zehn Uhr abends. Silvia Giorgini saß noch immer in ihrem Büro. Wieder und wieder verglich sie die Ergebnisse des Laguna-Express-Falls
mit den Daten der großangelegten Ermittlungskampagne gegen Kinderpornografie in Catania und Palermo. Um der Lust auf eine
Zigarette zu widerstehen, kaute sie Kaugummi.
In den Akten fand sie auch eine Liste mit Minderjährigen, die von ihren Eltern als vermisst gemeldet worden waren. Silvia |303| schauderte bei dem Gedanken, dass diese Namen zu kleinen Wesen aus Fleisch und Blut gehörten, deren Schicksal niemand kannte.
Sie wusste aus Erfahrung, dass die Chance, einen von ihnen wiederzufinden, gegen null ging. In jedem Jahr verschwanden in
Italien Tausende Kinder. Gefunden wurden kaum mehr als zehn. In einem Plastikordner entdeckte sie Fotos und Computersimulationen,
wie die Vermissten heute aussehen könnten. Mit Hilfe dieser Phantombilder wurde das Ermittlungsspektrum erweitert, das sich
jetzt auch auf das Ausland erstreckte. Während sie das Bild einer blonden Sechzehnjährigen studierte, die vor vier Jahren
verschwunden war, fragte sie sich, wie das kleine Mädchen mit den großen Augen wohl heute aussehen würde. Sie blickte zur
Magnettafel. Das Mädchen schien sie anzublicken und ihre Gedanken lesen zu können. Silvia lächelte das Foto an. Sicherlich
wäre sie heute eine schöne Frau. Dann kam ihr eine Idee. Sie steckte das Foto in einen weißen Umschlag und schrieb Barbera
eine Nachricht dazu.
Wie gerne hätte sie noch ein Stündchen weitergearbeitet, aber sie konnte einfach nicht mehr. Die Augen brannten, die Schultern
waren verkrampft. Sie schaltete den Computer aus und ging nach Hause.
Am nächsten Morgen um sieben war sie die Erste im Büro. Wie immer. Sie machte sich einen starken Kaffee und arbeitete da weiter,
wo sie am Vorabend aufgehört hatte. Die Aussagen der Zeugen, die die verschwundenen Kinder gesehen hatten, und die Vernehmungsprotokolle
der Verdächtigen waren nicht gerade ermutigend. Voller Ungereimtheiten, Rechtfertigungen und Widersprüche. Resigniert fuhr
sich Silvia über das Gesicht. Die
omertà
, das Gesetz der Verschwiegenheit, war wie eine unüberwindbare Mauer, egal, ob es um die |304| italienische, die russische, die nigerianische, die albanische oder die rumänische Mafia ging. Und diejenigen, die ins Blickfeld
der Polizei gerieten, hatten immer ein wasserdichtes Alibi.
»Wie ich sehe, sind Sie schon früh auf den Beinen.« Ispettore Bonadeo stand auf der Türschwelle und lächelte.
»Buongiorno, Dante.« Zum ersten Mal nannte sie ihn beim Vornamen.
»Hast du etwas für mich?« Silvia hatte den DIN-A4-Umschlag in seiner Hand bemerkt.
»Ja, ein seltsamer Zufall, es wird Sie bestimmt genauso verblüffen wie mich.«
Silvia runzelte die Stirn: »Ich hoffe, es ist eine gute Nachricht.«
»Entscheiden Sie selbst. Einer der Polizisten aus Peloris Eskorte am besagten Abend hat mir das zukommen lassen.« Er zog ein
Foto aus dem Umschlag. »Einer der Paparazzi vor Smeralda Manganos Haus hat es aufgenommen. Der Polizist hatte ihm die Kamera
abgenommen und unter anderem dieses Foto darauf entdeckt.«
»Ein Nummernschild.«
»Ja, aber nicht irgendeins.«
Silvia schaute genauer hin.
»Geben Sie auf, Commissario?«
»Ja, klär mich auf, Bonadeo.«
»Es ist das Nummernschild des Autos, das Salvo Falcetti überfahren hat. Erinnern Sie sich, der Mann wurde von einem Zeugen
gesehen, wie er Falcetti den Computer abgenommen hat.«
»Was?!« Die Kommissarin suchte unter dem Papierwust nach der Akte Falcetti.
»Ein unglaublicher Zufall, oder?«
|305| Silvia verglich das Foto des Nummernschilds mit der Autonummer, die der Zeuge angegeben hatte. »Seltsam, alle Spuren führen
zu Smeralda Mangano.«
Sofort verfinsterte sich Bonadeos Gesicht. Der Gedanke, dass Smeralda Mangano eine Rolle in einem Verbrechen spielen könnte,
behagte ihm gar nicht. Die Kommissarin bemerkte nichts von seinen Gefühlen und sinnierte weiter: »Vielleicht stand das Auto
nicht zufällig dort … Vor allem, wenn wir es mit unterlassener Hilfeleistung, Fahrerflucht oder sogar Mord zu tun
Weitere Kostenlose Bücher