Ich kenne dein Geheimnis
»Vergiss
nie, mein Kind, je mehr Land du hast, desto besser geht es dir.«
»Warum?«, hatte das andere Mädchen gefragt, das ihnen folgte. Aber der Großvater antwortete nicht und widmete sich weiterhin
nur seiner Enkelin Vivy: »Wenn ein Mann so viel Land hat, dass er die Grenzen seines Besitzes nicht mehr sieht, keine Straße,
keinen Telefonmast, kein anderes Haus, dann ist er ein glücklicher Mann.«
Doch als Vivy jetzt aus dem Fenster sah und den Blick über die schier grenzenlosen Ländereien schweifen ließ, war sie alles |311| andere als glücklich. Zum ersten Mal nach so vielen Jahren fragte sie sich, was aus dem dunkelhaarigen Mädchen geworden war,
das unablässig hinter dem Großvater hergerannt war, ohne je von ihm beachtet zu werden. Ob sie wohl glücklich war?
»Wir sind da, Baronessa, die Mitglieder der Geschäftsleitung erwarten Sie im Sitzungssaal.«
Auf der Tagesordnung stand nur ein Punkt: Sollten sie das Schutzgeld zahlen oder nicht? Bei einem Nein würde die Baronessa
die Polizei einschalten und den Erpressern den Krieg erklären.
Vivy hatte die ganze Nacht wach gelegen und überlegt, wie sie der kritischen Situation begegnen sollte. Im letzten Jahr war
der Gesamtumsatz der Firma gestiegen, daher wären sie durchaus in der Lage, das Schutzgeld zu zahlen. Aber nicht mit ihr,
sie ließ sich nicht erpressen. Mit eiserner Härte hatte sie alle Konkurrenten aus dem Weg geräumt. Im Gespräch mit ihrem Sicherheitschef
war sie zu der Überzeugung gelangt, dass die Mafia einen Spitzel innerhalb der Firma haben musste. Wie hätte der Eindringling
sonst alle Sicherheitssysteme umgehen können? Noch auf dem Weg zum Sitzungssaal ließ sie dieser Gedanke nicht los.
»In Anbetracht der Fakten sind Marco und ich zu der Überzeugung gekommen, dass es in unseren Reihen einen Verräter geben muss.«
Mit diesen deutlichen Worten eröffnete die Baronessa die Sitzung. Mit Formalien hielt sie sich nicht lange auf.
Unter den Anwesenden entstand Unruhe, doch als die Baronessa weitersprach, wurde es sofort wieder totenstill: »Ich erwarte
von jedem von Ihnen unverzüglich einen Bericht über die Personalentwicklung und die private Situation eines jeden Ihrer Mitarbeiter,
vertraulich natürlich. Vor allem möchte ich |312| wissen, ob es im Umfeld unserer Leute Personen gibt, die womöglich erpresst werden …« Sie machte eine Pause, sah eindringlich
in die Runde und fuhr in entschiedenem Ton fort: »Auch die hier Anwesenden sind nicht ausgeschlossen. Wenn jemand auch nur
den kleinsten Verdacht gegen einen Kollegen hat, ist er verpflichtet, mir das unter vier Augen mitzuteilen. Außerdem erwarte
ich von jedem unter Ihnen einen detaillierten Bericht über seine familiäre Situation.«
Das Gemurmel im Raum brandete wieder auf, aber die Baronessa hatte nicht die Absicht, sich Kritik anzuhören, selbst von ihren
engsten Mitarbeitern nicht. Sie erhob sich und verließ mit Marco Tonioli den Saal. Die Sitzung war beendet.
Nach dem dritten anonymen Brief hatte sich Chiaras Angst noch gesteigert. Wurde sie wirklich verfolgt? Vorsichtshalber fuhr
sie mit dem Taxi ins Studio oder sie bat Ilaria, die in der Nähe wohnte, sie mitzunehmen. Aus Furcht, jemand könnte die Bremsen
an ihrem Auto manipuliert haben. Das war kein Thema für ein Telefongespräch, sonst hätte sie sich längst Silvia anvertraut.
An diesem Morgen hatte sie Forte um Urlaub gebeten, sie wollte so bald wie möglich nach Mailand fahren. Sie hatte vorgeschlagen,
noch einmal mehrere Folgen von »Mein Geheimnis« am Stück zu produzieren. Um die Interviewpartner würde sie sich gegebenenfalls
persönlich kümmern. Schließlich hatte Forte zugestimmt, allerdings nicht, um ihr einen Gefallen zu tun. Den Streit um die
Ausstrahlung des Mangano-Interviews hatte er noch nicht vergessen. Die Gründe für seine Großzügigkeit waren rein wirtschaftlicher
Natur.
Chiara hatte sich sofort an die Arbeit gemacht und kurz hintereinander Adriana Volpe und Anna Tatangelo interviewt. Beide
hatten sich als ideale Gesprächspartnerinnen entpuppt, |313| und die Zeit war dank der doppelten Arbeitsbelastung wie im Flug vergangen. Abends war sie mit Ilaria nach Hause gefahren,
die ihr auch für die nächsten Tage eine Mitfahrgelegenheit angeboten hatte.
In der Spüle stapelten sich noch die schmutzigen Teller vom Vorabend, auf dem Tisch lagen die Reste des Frühstücks, ein Notizblock
und ein Stift. Da Chiara vom frühen
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