Ich kenne dein Geheimnis
Texte anging.
Was die Hieroglyphen betraf, die Volfango d’Altino in seinen Aufzeichnungen hinterlassen hatte, gab es keine Fortschritte. |308| Vielleicht hatte Maria Majorana bei ihren Recherchen mehr Glück. Vivy beschloss, Gerrys Bekannte umgehend aufzusuchen.
Mittlerweile hatte sie fünfzehn weitere Fotos von Lupo ausgewählt und in eine Plastikmappe gesteckt. Jetzt war der Grafiker
am Zug. Es war bereits zwölf und Vivy verspürte leichten Hunger. »Das reicht für heute«, entschied sie und stand auf. Dieses
Mal hatte sie die Tränen zurückhalten können.
Vor dem Mittagessen machte sie noch einen Abstecher in die kleine Kapelle, deren Innenraum Cesco neu gestalten ließ. Sie lag
etwa fünfzig Meter von der Villa entfernt, unweit der großen Kellereianlagen. Nach den Vorstellungen von Cesco de’ Razzi und
Gerry Boschi sollte die Kapelle als Symbol für die Symbiose zwischen Familie und Weingut fungieren. »Die Kapelle ist ein Sinnbild
für den Geist der Familie Sannazzaro, der sich auch in der Person von Lupo findet. Verstehst du, meine Liebe?«, hatte Gerry
gesagt. »Diese geweihten Mauern sollen die Heimat der Erinnerungen darstellen, eine Art Schrein für den Geist deines Sohnes
und gleichzeitig ein Ort der Besinnlichkeit und Kontemplation.«
Vivy wollte gerade das Büro verlassen, als die Sekretärin ihr mitteilte, dass Marco Tonioli sie dringend sprechen wolle. Die
Art, wie sie das Wort »dringend« betonte, beunruhigte die Baronin zutiefst. Der Sicherheitschef ihrer Firma kam nur im äußersten
Notfall in ihr Büro.
»Baronessa, entschuldigen Sie die Störung.«
»Komm, Marco, setz dich«, Vivy schloss die Tür.
»Im Magazin 2 gab es einen Unfall. Jemand hat in der Nähe der hölzernen Eingangstür Feuer gelegt. Nachdem der Alarm ausgelöst
wurde, waren wir sofort vor Ort und haben die |309| Flammen gelöscht. Zum Glück ist nichts Ernsthaftes passiert. Aber wir haben das hier gefunden.« Er reichte ihr ein Blatt Papier.
Vivy griff danach und las die Nachricht, die in krakeligen Druckbuchstaben geschrieben war. Der Verfasser musste entweder
ein Kind oder ein Mensch sein, der selten schrieb.
»WENN DU NICHT WILLST, DASS DEIN HAB UND GUT IN FLAMMEN AUFGEHT, MUSST DU GEHORCHEN.«
Vivy blickte Marco Tonioli entsetzt an. »Soll das ein Scherz sein? Ein Verrückter?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wirklich Sorgen macht mir die Tatsache, dass jemand unbemerkt in Magazin 2 eindringen konnte. Was ist mit unseren Wachmännern?«
Wieder schüttelte Tonioli den Kopf. Er war am Boden zerstört. »Glauben Sie mir, Baronessa, bei unserem Sicherheitssystem ist
es praktisch unmöglich, dass ein Fremder auf das Gelände gelangen kann.«
»Und trotzdem ist es passiert! In unserem System muss es eine Lücke geben!«
Tonioli senkte den Blick.
»Und du musst sie finden. Sofort.«
»Natürlich, Baronessa, es sei denn …«
»Es sei denn?«
»Es sei denn, es war gar kein Fremder, der in das Magazin eingedrungen ist.«
Vivy schwieg. Der Appetit war ihr vergangen.
Der Tag der Stiftungsfeier rückte immer näher, und Vivy fragte sich, ob sie dem Druck überhaupt würde standhalten können.
Der Brand war nicht der einzige Unfall gewesen. Ein |310| Arbeiter, der ein Schild reparieren wollte, war vom Gerüst gefallen, das noch am Morgen von Marco persönlich kontrolliert
worden war. Am nächsten Vormittag war der Chefgärtner mit dem Auto gegen einen Baum gefahren, weil die Bremsen gestreikt hatten.
Und am Nachmittag war in Magazin 1 Wein aus einem Eichenfass ausgelaufen. Dass es sich nicht um Zufälle handeln konnte, bewiesen
die drei Drohbriefe, die auf dem Werksgelände gefunden worden waren. Im letzten Brief gab es eine Schutzgeldforderung. Und
wenn die Baronessa die Polizei einschalten würde, hätte sie die Folgen selbst zu verantworten.
Vivy stand im Wohnzimmer und sah auf die Veranda hinaus. Zum ersten Mal erschien ihr die geliebte Landschaft fremd und bedrohlich.
Sie versuchte sich auf ein vertrautes Detail zu konzentrieren. War das nicht ihr Großvater Vittorio, den sie inmitten der
grünen Weinberge zu erkennen glaubte? Den großen weißen Panamahut auf dem Kopf, um sich vor der Sonne zu schützen. Er hielt
sie an der Hand und zeigte stolz auf die saftigen roten Trauben. Hinter ihnen stand ein dunkelhaariges schmächtiges Mädchen,
um das sich der Großvater nicht weiter zu kümmern schien. Er hatte immer nur Augen für seine schöne Vivy gehabt.
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