Ich kenne dein Geheimnis
junge Frau, ihr gegenüber auf dem Sofa Platz zu nehmen.
Ihr Körper war stocksteif, und ihre Schultern schmerzten, als ob Backsteine auf ihnen lasten würden. »Ich möchte vorwegnehmen,
Signora Mangano, dass ich mir keine Lügen über meinen Sohn anhören werde«, sagte sie bestimmt. »Was auch immer Sie mir sagen
wollen, Ihr Wort allein genügt mir nicht.«
»Ich verstehe.«
»Sehr gut. Für den Fall, dass Sie keine Beweise für das haben, was Sie vorbringen, brauchen Sie also gar nicht erst anzufangen.«
Smeralda biss sich auf die Lippe. Zögernd begann sie.
»Ich könnte den Körper Ihres Sohnes Zentimeter für Zentimeter beschreiben. Aber das dürfte wohl kaum genügen, um Sie davon
zu überzeugen, dass wir uns sehr nahestanden …«
»Ersparen Sie mir bitte die Details«, fiel ihr Vivy ins Wort. Dieses Mal ließ Smeralda sich nicht einschüchtern. »Nein, bitte,
lassen Sie mich weitersprechen. Ich könnte Ihnen von |371| Lupos Leberfleck an der Leiste erzählen. Als er ein Kind war, haben Sie immer gesagt, der Fleck sei das Zeichen für den Regenbogen,
der bei seiner Geburt am Himmel stand.«
Vivys Augen füllten sich mit Tränen.
»Und dass er nur seiner großen Liebe von diesem Geheimnis erzählen sollte.«
»Das beweist gar nichts«, sagte Vivy mit einem Kloß im Hals.
»Die konkreten Beweise, die Sie von mir fordern, habe ich nicht, aber ich kann Ihnen die Wahrheit sagen. Die ganze Wahrheit
über Lupos Tod.«
Bei diesen Worten wurde Vivy leichenblass, die Konturen des Zimmers verschwammen vor ihren Augen. »Was wollen Sie damit sagen?«,
flüsterte sie.
»Lupo ist nicht bei einem Autounfall umgekommen.«
Vivys Hände umklammerten die Sessellehne. »Wie bitte?«
»Ihr Sohn wurde ermordet. Es tut mir leid, dass ich Ihnen das so brutal ins Gesicht sagen muss, aber es ist die Wahrheit.«
»Fahren Sie fort.«
»Es war die Mafia.« Smeralda hielt kurz inne. Sie wollte der Baronessa nicht weh tun, aber sie wusste, dass sie alles erzählen
musste: »Lupo hatte hohe Spielschulden. Doch er wollte Sie um keinen Preis enttäuschen, daher versuchte er, das Problem auf
eigene Faust zu lösen. Er hat sich bei Wucherern Geld geliehen. Ich habe ihm gesagt, er solle mit Ihnen sprechen, aber Lupo
wollte nicht, dass sich seine Mutter für ihn schämte.«
Vivy atmete geräuschvoll ein und aus und versuchte die Fassung zu bewahren. Ihr Gesicht war starr wie eine Maske. Trotzdem
begannen die Tränen zu fließen, langsam, aber unaufhörlich. Sie kam sich vor wie Niobe, die Gemahlin des Königs von Theben,
die nach dem Tod ihrer Kinder, die von der |372| Göttin Leto ermordet worden waren, vor Schmerz erstarrte und von den Göttern in einen Felsen verwandelt wurde.
»Ich werde Ihnen sagen, wer ich bin«, fuhr Smeralda fort. Es fiel ihr schwer, die Tränen der alten Dame zu ignorieren. »Bevor
ich nach Mailand gekommen bin, um Schauspielerin zu werden, war ich Prostituierte in Palermo. Dort hat Lupo mich auch kennengelernt.«
Bei dem Wort Prostituierte war die Baronin zusammengezuckt. »Er hat sich trotzdem in mich verliebt. Und in Mondello haben
wir uns unserer Liebe hingegeben. Diese Tagen waren die schönsten meines Lebens.« Jetzt weinte auch sie.
Die Baronin schwieg. Sie hielt die Hände in ihrem Schoß verschränkt und presste die Finger so fest aneinander, dass es weh
tat, um sich von ihrem seelischen Schmerz abzulenken. Die beiden Frauen weinten still, vereint in ihrem Leid. Mit großer Mühe
sprach Smeralda weiter: »Nach Lupos Tod erfuhr ich, dass der Mord von einem Mann in Auftrag gegeben worden war, der enge Verbindungen
zur Mafia hatte, einem Mann, den ich gut kannte. Lupo sagte immer, dass er sich von diesen verdammten Wucherern niemals einschüchtern
lassen würde. Und seine Exekution sollte eine Abschreckung für all jene sein, die nicht gehorchen wollten. Ich habe ihnen
Rache geschworen, denn ich wusste Bescheid. Ich wusste alles.«
Smeralda blickte zu Vivy hinüber, voller Mitleid für diese alte zerbrechliche Frau, die alles versuchte, um sich gegen eine
kaum zu ertragende Wahrheit zu wehren. Aber sie bemitleidete auch sich selbst, weil sie viel zu lange geschwiegen hatte. »Baronessa,
ich fürchte, ich muss Ihnen noch etwas sagen, das Ihnen sehr weh tun wird.«
Vivy presste die Augen fest zusammen und wartete auf den nächsten Schlag.
»Kurz nach Lupos Tod stellte ich fest, dass ich schwanger |373| war. Erst da habe ich begriffen, dass es ein
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