Ich kenne dein Geheimnis
großer Fehler war, seinen Mördern zu drohen. Ich dachte doch, ich hätte nichts
mehr zu verlieren … und plötzlich war da dieses Leben in mir.«
Die Baronessa starrte sie atemlos an.
»Ich wurde während der gesamten Schwangerschaft gefangen gehalten, und als die Zwillinge geboren wurden, haben sie sie mir
weggenommen. Als Faustpfand für mein Schweigen. Seitdem habe ich meine Kinder nie wiedergesehen.« Smeralda schlug sich die
Hände vors Gesicht und brach in haltloses Schluchzen aus.
Alle Härte war aus Vivys Gesicht gewichen. Mit zitternden Beinen stand sie auf, setzte sich neben Smeralda auf das Sofa und
nahm sie fest in den Arm: »Weine nur. Weine, so lange du willst.« Sanft presste sie den Kopf der jungen Frau an ihre Brust
und weinte mit ihr zusammen, so lange, bis sie einfach keine Kraft mehr hatte. Erst dann entspannte sich ihr Körper, und die
Last auf ihre Schultern war verschwunden.
Chiara erwachte gegen acht. Sie hatte in einem kleinen mittelalterlichen Dorf übernachtet, etwa zehn Kilometer von der Villa
Sannazzaro entfernt. Gilla hatte sie sofort nach der Party mit dem Auto zu einem Gasthof gebracht. Chiara hatte sich zwar
gewehrt, aber Gilla war hart geblieben. »Keine Widerrede, Chiara, nach allem, was passiert ist, setzt du dich nicht mehr ans
Steuer. Hast du nicht gehört, was der Arzt gesagt hat? Du brauchst Ruhe.« Dann hatte sie Chiara auf ihr Zimmer begleitet.
Letztendlich kam es ihr ganz gut zupass, die Nacht in der Nähe des Weinguts zu verbringen: eine gute Gelegenheit, am nächsten
Morgen noch einmal mit der Baronin zu sprechen.
Ihr Zimmer war einfach eingerichtet und spartanisch möbliert, |374| aber es hatte ein großes Fenster, durch das man auf die Felder blicken konnte. Sie war von Vogelgezwitscher und dem schüchternen
Licht der Morgensonne geweckt worden, das durch die Ritzen der Rollläden drang. Sie öffnete einen Moment das Fenster, um die
frische Luft hereinzulassen, genoss die Aussicht und war glücklich. Genau wie das erste Mal, als sie Venzy, ihren Schwiegervater
in spe, auf dem Land besucht hatte. Sie fühlte sich ein wenig wehmütig, aber dann dachte sie daran, dass Paolo bald aus New
York zurückkommen würde und sie gemeinsam seinen Vater besuchen könnten. In aller Ruhe machte sie sich frisch und zog sich
an. Trotz des anstrengenden Festes fühlte sie sich gut, was sie ein wenig wunderte, denn normalerweise war sie nach Visionen
immer ziemlich geschwächt, vor allem, wenn sie stark und wiederkehrend waren.
Da es für einen Besuch bei der Baronessa noch zu früh war, entschied sie sich nach dem Frühstück, einen Spaziergang durch
das Dorf zu machen. Als sie durch die schmalen gepflasterten Gassen schlenderte, wurden Erinnerungen wach: das Plätschern
des Brunnens auf dem Dorfplatz, die Gespräche der alten Männer vor der Bar und das Rascheln der Blätter der stattlichen Bäume.
Ein wohltuender Kontrast zur Hektik der Stadt. Plötzlich mischte sich ein störender Beigeschmack in ihre Gedanken. Chiara
war gerade an der alten Kirchentür vorbeigegangen, als sie wieder die Flammen vor sich sah, die die Baronin verschlungen hatten.
Auch wenn es nur eine Erinnerung war, Chiara war verwirrt: Das Bild war genauso lebendig gewesen wie eine Vision. Sie durfte
nicht mehr länger warten. »Wenn sich die gleiche Vision mehrmals wiederholt und sich in die Träume und die Erinnerungen drängt,
dann ist jemand in Gefahr. Denk an das universelle Bewusstsein, auf dem sich die Welt aufbaut, genau wie das menschliche Gehirn. |375| Es besteht kein Unterschied zwischen Handlungen und Gedanken, zwischen Vorstellung und Realität. Alles findet auf der gleichen
Ebene statt«, hatte ihr Danka erklärt. Die Gefahr war nah, sie konnte sie spüren. Sie musste die Baronessa warnen. Ohne zu
zögern, eilte sie zum Gasthof, setzte sich ins Auto und fuhr zur Villa Sannazzaro.
Alfredo teilte ihr mit, dass die Baronessa bereits einen anderen Gast habe und nicht gestört werden wolle. Chiara insistierte:
»Sagen Sie ihr, es sei dringend.« Der Diener setzte ein zweites Mal zu einer Erklärung an, doch Chiara war fest entschlossen,
nicht nachzugeben. »Warten Sie hier«, sagte er schließlich und ging.
»Baronessa, entschuldigen Sie die Störung, aber eine Frau will Sie unbedingt sprechen.«
»Alfredo, ich habe dir bereits gesagt, dass ich nicht gestört werden möchte.« Vivy saß noch immer neben Smeralda und hielt
ihre Hand,
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