Ich kenne dein Geheimnis
nach Ihrem Anruf habe ich mich an etwas erinnert,
das Ihnen sehr gefallen wird, denke ich.« Er reichte ihr ein altes Manuskript.
»Seine Eminenz wünscht, dass Sie dieses Dokument an sich nehmen. Es betrifft mit aller Wahrscheinlichkeit Ihre Familie. Sehen
Sie, es wurde Ende des 18. Jahrhunderts in Palermo von Kardinal Medinaceli verfasst.«
Wieder rannen Tränen über die Wangen der Baronin, dieses Mal allerdings vor Ergriffenheit.
»Der Kardinal erzählt darin von seiner Begegnung mit Volfango d’Altino und einer gewissen Oliva di Regalmici …«
»Haben Sie vielen Dank!« Vivy strahlte ihn an und drückte die Akte an ihre Brust. Wieder hatte Volfango ihr ein Zeichen gegeben.
Durch seine Memoiren hatte er sie zu diesem Schriftstück geführt. Ganz so, als ob er ihr zeigen wollte: Du bist auf dem richtigen
Weg.
Palermo, 1771
Nachdem seine Eminenz Cosimo di Medinaceli Volfango und Oliva gesegnet hatte, rief er nach seinem Sekretär. Der Mönch verbeugte
sich tief, reichte dem Kardinal den Purpurmantel und brachte ihn zum Ausgang der Sakristei.
Kaum waren Volfango und Oliva wieder allein, fielen sie einander in die Arme. Es würde nicht leicht sein, Palermo zu verlassen.
|420| Oliva schwieg. Es tat ihr weh, heimlich wie ein Dieb aus der Stadt zu schleichen. Warum mussten sie auf diese demütigende
Weise fliehen? Als mutige und geschickte Kämpferin würde sie sich gegen alle Feinde durchsetzen, egal, ob es die Wächter des
Vizekönigs oder die geheimnisvollen Beati Paoli waren. Die Schulterverletzung aus ihrem letzten Kampf hatte ihren Mut nicht
geschmälert. Volfangos Entscheidung akzeptierte sie nur aus einem einzigen Grund: Schon immer hatte sie davon geträumt, in
einem fremden Land ein neues Leben zu beginnen, und dieser Traum war jetzt zum Greifen nah. Bald würden sie sich einschiffen,
um nach London zu segeln. Mademoiselle Francine, die bereits dort gewesen war, hatte wahre Wunderdinge erzählt: »London ist
eine Reise in die Zukunft, und die Mode ist
très charmante
, genau wie in Paris.«
»Sag mir, woran du denkst«, Volfango strich ihr übers Haar.
Seine tiefe Stimme riss Oliva aus ihren Gedanken. Instinktiv umfasste sie ihr Schwert. »Lass uns gehen, Volfango. Wir wollen
keine Zeit verlieren.«
Heimlich verließen sie die Kirche Santa Maria delle Sette Spade. Inzwischen war es hell geworden, sie mussten sich beeilen:
Eine einzige Unachtsamkeit könnte ihr Geheimversteck verraten.
Gemeinsam mit Franzin und Balà huschten sie rasch durch die verwinkelten Gassen bis hin zu einem verfallenen Haus. Die Eingangstür
war nicht verschlossen. Drinnen war es dunkel, ein furchtbarer Gestank schlug ihnen entgegen. Franzin schob einen an die Wand
gelehnten Strohsack zur Seite und zog an einem kleinen Haken. Ein schmaler Eingang wurde sichtbar. Balà ging voraus.
»Los«, sagte Volfango und schob Oliva durch die Öffnung. Danach schlüpften er und Franzin hinterher. Der Baron schloss den
Eingang, und gemeinsam stiegen sie die Treppe in |421| den Untergrund hinab. Im Versammlungsraum saßen einige Männer im Kreis. Einer von ihnen erhob sich und ging Volfango entgegen:
»Bruder!« Die beiden umarmten sich herzlich.
»Das ist Chiereghin, Antonio Mario Chiereghin aus Chioggia«, stellte Volfango den Mann vor.
»Marchesa, es ist mir ein Vergnügen, Eure Bekanntschaft machen zu dürfen.« Chiereghin kniete vor Oliva nieder.
Oliva lächelte. Der Edelmann lächelte zurück und wandte sich dann wieder an den Baron: »Das Schiff ist bereit, Volfango. Meine
Familie steht Euch zu Diensten, eine Selbstverständlichkeit nach allem, was Ihr für uns getan habt. Und außerdem …«, Chiereghin
lachte und schlug seinem Freund auf die Schulter, »gegen den Dogen zu kämpfen ist ein Vergnügen, auf das ich um nichts in
der Welt verzichten möchte. Diese verdammten Venezianer verfolgen uns mit ihrer Kriegsflotte. Die
Milizia da mar
erfindet immer neue Steuern, presst uns bis auf den letzten Scudo aus und unterdrückt das Volk.« Bei diesen Worten erhob sich
beifälliges Gemurmel.
»Bruder, es tut gut, Euch so sprechen zu hören.« Volfango umarmte ihn ein weiteres Mal und ging dann zu den anderen hinüber,
um ihnen mitzuteilen, wie er einen Teil seiner Besitztümer unter ihnen aufteilen wollte. Wieder beifälliges Gemurmel, doch
der Baron bat nochmals um ihre Aufmerksamkeit, um ihnen die zukünftige Strategie der Bruderschaft darzulegen und seinen Nachfolger
Giona
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