Ich kenne dein Geheimnis
Dante Bonadeo fernhalten, so schwer es ihr auch fallen würde. Es war grausam, gerade den
Menschen zu meiden, der sie respektiert und ihr das Gefühl gegeben hatte, eine Frau und keine dreckige Hure zu sein. Aber
sie spürte, dass sie keine andere Wahl hatte, wenn sie Dante die Hölle ersparen wollte. Die Hölle, in der sie lebte: ein Leben
lang erpresst, in der ständigen Angst, ihre Kinder nie wiederzusehen, vorausgesetzt, sie waren überhaupt noch am Leben. Sie
hatte irgendwo gelesen, dass eine Mutter immer wusste, wie es ihrem Kind ging, egal, wie weit sie von ihm entfernt war. Sie
hoffte, dass das nicht stimmte, denn ihr |425| Instinkt sagte ihr immer nur, dass ihren Kinder etwas Furchtbares zugestoßen war. Sie dachte wieder an das Foto des dunkelhaarigen
Mädchens und an all das, was Bonadeo ihr über den Kinderhandel erzählt hatte. Unschuldige Entführungsopfer, denen die Organe
entnommen wurden, um einen florierenden Handel zu bedienen. Die Drahtzieher agierten unerkannt im Hintergrund.
Bei diesem Gedanken schoss ihr das Blut in den Kopf. Wenn sie einen dieser Unmenschen in die Finger bekäme, würde sie ihm
die Augen auskratzen und ihn zerfleischen wie ein wildes Tier. Doch selbst der Gedanke an Rache konnte die Angst nicht überdecken.
Ihre einzige Hoffnung, ihre Kinder jemals wiederzusehen, war Vivy Sannazzaro.
»Signorina Smeralda«, Rachel stand in der Tür und musterte sie besorgt. Smeralda öffnete die Augen, sie fühlte sich, als ob
ihr Kopf in einem Schraubstock steckte.
»Commissario Giorgini möchte Sie sprechen.«
»Sag ihr, ich brauche Ruhe.«
»Das habe ich bereits, aber die Kommissarin lässt sich nicht abwimmeln.«
»Hilf mir bitte«, sagte sie und stieg aus dem Bett. Raquel streifte ihr den Morgenmantel über und brachte ihre Haare in Ordnung.
Silvia Giorgini saß im Wohnzimmer, aber sie war nicht allein. Als Smeralda ihre Begleiterin erkannte, zögerte sie.
»Buongiorno, Signorina Mangano. Ich bin Commissario Giorgini«, Silvia reichte ihr die Hand.«Und das ist …«
»Wir kennen uns bereits«, unterbrach sie Smeralda mit bangem Blick.
Chiara lächelte sie freundlich an. »Machen Sie sich keine Sorgen. Wir sind hier, um Ihnen zu helfen.«
Silvia sah ihre Freundin etwas irritiert an. Es ging um eine |426| mögliche Schlüsselfigur in einer Mordermittlung und nicht um Psychotherapie. Sie räusperte sich vernehmlich und setzte in
professionellem Ton hinzu: »Ich möchte Sie darüber informieren, dass wir einen begründeten Verdacht haben, dass Sie in den
Mordfall Marcovich-Livraghi verwickelt sind.«
Das Folgende hörte Smeralda nicht mehr. Bei den Worten der Kommissarin überschlugen sich ihre Gedanken.
»… und deshalb, Signorina Mangano, empfehle ich Ihnen, mit uns zusammenzuarbeiten und alles zu erzählen, was Sie wissen. Auch
im Kommissariat, wenn Ihnen das lieber ist.«
Smeralda schwieg und starrte Chiara an.
»Haben Sie keine Angst.« Chiara war klar, dass Smeralda zur Ruhe kommen musste. Sie lächelte und umfasste ihre Handgelenke.
Während Smeralda zusammenzuckte, spürte Chiara, wie die Energie zu fließen begann. Vor ihrem inneren Auge erschienen Bilder,
die außer ihr niemand sehen konnte.
Schlagartig wurde es dunkel, die eleganten Möbel verschwanden, die Umgebung wurde düster und ärmlich, statt Parkettboden sah
sie nun rote Erde. Smeralda kauerte mit weit gespreizten Beinen auf dem Boden und umklammerte ihren Bauch, als hätte sie schreckliche
Schmerzen. Unter lautem Schreien begann sie zu pressen. Neben ihr stand eine Frau in einem langen Kapuzenmantel. Sie beugte
sich über sie und sah sie schweigend an. Kurz darauf glitt eine dunkle, glitschige Masse aus Smeraldas Körper. Unförmig, von
dickflüssigem Schleim umhüllt, hob und senkte sich das Etwas wie ein riesiges klopfendes Herz. Bevor Chiara erkennen konnte,
was es war, hob die Frau mit der Kapuze das Wesen vom Boden auf und verbarg es unter dem weiten Mantel. Einen Augenblick später
wandte sie sich um. Erst da sah Chiara ihr ins Gesicht und schrie …
»Yelena Marcovich!«
»Chiara, Chiara, wach auf! Wir sind bei dir, wach auf! Alles |427| ist gut, es ist vorbei.« Silvia hockte auf dem Boden und hatte Chiara auf die Seite gelegt. Sie hatte die Symptome einer nahenden
Vision sofort erkannt: die konvulsiv zuckenden Gliedmaßen, das feuerrote Gesicht und die nach oben gerichteten Augäpfel. Die
Seitenlage verschaffte ihr Linderung. Silvia lockerte Chiaras
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