Ich kenne dein Geheimnis
Anschläge hatten beträchtliche Schäden verursacht, große Mengen Wein waren vernichtet, das
Magazin 4 war völlig zerstört. Ganz zu schweigen von Alberto Buzzi, der im Koma lag und womöglich nie wieder aufwachen würde.
Auch sie hatte inzwischen Zweifel an seiner Schuld. Plötzlich fielen ihr die Worte aus dem letzten anonymen Brief wieder ein.
Du willst einen Toten? Du sollst ihn haben.
Galt das für Alberto Buzzi? Vivy seufzte tief. Was hatte das alles zu bedeuten? Und als ob das nicht schon genügte, hatte
die Geschäftsführung am Vorabend einstimmig beschlossen, den Fall der Polizei zu übergeben. Sie hatte noch etwas Zeit gewonnen,
als sie den schweren Imageverlust ins Spiel brachte, doch der Vorstand hatte sie weiter unter Druck gesetzt. Da aber auch
sie nicht wusste, wie man das Problem sonst lösen könnte, hatte sie nachgeben müssen.
Plötzlich hörte sie Schritte hinter sich und fuhr erschrocken herum. Aber es war nur Alfredo.
»Der Wagen steht bereit.«
Das Wetter in Florenz war trübe. Es regnete zwar noch nicht, aber am Himmel drohten bereits dunkle Wolken. Marco Tonioli hatte
das Auto am Treffpunkt in der Nähe der Via Tornabuoni abgestellt. Dann folgte er der Baronessa und Bruno Velati. Ihre schnellen
Schritte hallten auf dem Kopfsteinpflaster wider. Um diese Uhrzeit waren die Boutiquen in der eleganten Geschäftsstraße noch
geschlossen und nur wenige Passanten unterwegs.
Sie betraten einen altehrwürdigen Palazzo und stiegen die Marmortreppe in den ersten Stock hinauf.
|415| »Sollen wir hier warten?«, Marco Tonioli sah die Baronessa fragend an.
»Ja, danke, Marco.« Vivy zitterte vor Kälte und Anspannung. Kurze Zeit später tauchte ein junger Priester auf und brachte
sie in ein nüchtern eingerichtetes Büro. Am Schreibtisch saß ein weißhaariger alter Mann in einem elegant geschnittenen schwarzen
Talar. Er hatte die gleichen veilchenblauen Augen wie die Baronessa.
»Vivy, meine Liebe, wie geht es dir?« Der Mann hatte sich erhoben, um sie zu begrüßen.
Die Baronin versuchte zu lächeln, was jedoch misslang. »Lieber Cousin, ich brauche deine Hilfe.«
»Ich werde tun, was ich kann. Was hast du auf dem Herzen?«
Vivy hatte sich während der Fahrt die richtigen Worte zurechtgelegt, um möglichst sachlich zu bleiben. Jetzt erzählte sie
ihm alles, von ihrer Wut auf die Erpresser, aber auch von ihrer Angst, einen Fehler gemacht zu haben. Dann sprach sie das
an, was ihr am meisten am Herzen lag: ihre Enkelkinder, von deren Existenz sie bis vor wenigen Tagen noch nichts geahnt hatte
und die sie jetzt um jeden Preis retten wollte.
Der Mann runzelte die Stirn und faltete die Hände, dann überlegte er kurz und nickte. Er griff nach einem Stück Papier und
schrieb einen Namen, eine Adresse und eine Telefonnummer sowie eine kurze Nachricht darauf. »In Palermo gibt es jemanden,
der dir helfen kann«, sagte er und reichte ihr das Blatt. »Brich gleich morgen früh auf. Der Sekretär seiner Eminenz wird
dir sagen, was zu tun ist. Er wird dein Geheimnis wahren, sei unbesorgt. Im Übrigen solltest du besser fliegen, damit ersparst
du dir eine Menge Schwierigkeiten. Vergiss nicht, in Palermo sind Augen und Ohren überall, selbst dort, wo du es am wenigsten
vermutest. Ich werde für dich beten.«
|416| Vivy standen Tränen in den Augen, sie bedankte sich und küsste seinen Ring.
Der Geistliche schob sie sanft von sich und brachte sie zur Tür. Dort legte er ihr aufmunternd die Hand auf die Schulter.
»Gott schütze dich, Viveca.«
Während sie mit Tonioli und Velati die Treppen herunterging, fiel Vivy Sannazzaro auf, dass sie nicht mehr fror.
Am nächsten Morgen war Baronessa d’Altino mit ihren beiden engsten Mitarbeitern nach Palermo geflogen. Das Flugzeug war ihr
von ihrem alten Freund Andrea Delli Monti zur Verfügung gestellt worden.
Um halb elf landeten sie in Palermo. Es war zwar bewölkt, aber recht mild. Vor dem Flughafen erwartete sie ein Wagen mit verdunkelten
Scheiben und einem Fahrer in Livree, der sie in den Bischofspalast brachte. Während der Fahrt war Vivy äußerst angespannt,
sie schloss die Augen und ließ sich in den Sitz sinken. Die vergangenen Ereignisse hatten sie stark geschwächt. Jetzt galt
es, ihre Firma und ihre Enkel zu retten, deshalb musste sie mit ihren Kräften haushalten. Einen Moment lang fiel sie in einen
unruhigen Halbschlaf. Sie erkannte sich vor dem alten Heuschober über dem Stall, den der
Weitere Kostenlose Bücher