Ich kenne dein Geheimnis
Kleidung und stopfte ihr ein zusammengeknülltes Stofftaschentuch
in den Mund, damit sie sich nicht auf die Zunge biss. Mit der anderen Hand fühlte sie den Puls. Nach einigen Minuten ließ
das Zucken nach, und Chiara erwachte.
»Es geht wieder, mach dir keine Sorgen«, sagte sie zu Silvia und drückte ihr die Hand.
Smeralda stand noch unter Schock. Sie war einen Schritt zurückgewichen und presste die Hand vor den Mund. Chiaras markerschütternden
Schrei würde sie nie vergessen. Chiara Bonelli wusste von Lena Marcovich …
»Ich werde alles sagen, alles«, stammelte sie panisch.
»Ich höre, Smeralda«, sagte die Kommissarin und zog ein Aufnahmegerät aus der Tasche.
Nach kurzem Zögern begann Smeralda zu sprechen: »Es ist wahr, ich kenne die Tote aus dem Eurostar. Ich habe sie vor vielen
Jahren kennengelernt, in einem anderen Leben, einem Leben, von dem niemand wissen darf …«
»Machen Sie sich keine Sorgen, bei uns ist Ihr Geheimnis in besten Händen.«
»Ich heiße Maria Catena Calogero und wurde in Mongiuffi in der Provinz Messina geboren. Mein Leben war nicht einfach, manchmal
war ich gezwungen, schreckliche Dinge zu tun … Dann, eines Tages, ich arbeitete noch als Hostess, habe ich Lena kennengelernt.«
Smeralda hielt inne, um sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen, und fuhr dann fort. Sie erzählte von der Entführung, der
Geburt ihrer Kinder und davon, wie ihr Lena Marcovich die Zwillinge weggenommen |428| hatte. Und von ihrer Angst, zur Polizei zu gehen, denn diese Leute schreckten vor nichts zurück.
Sie enthüllte alle Details, nannte aber keine Namen. Während sie der Schauspielerin zuhörte, konnte Chiara ihre ganze Angst
spüren, so als hätte sie das alles selbst erlebt. Silvia schaute hin und wieder auf den Recorder, ansonsten behielt sie Chiara
und Smeralda im Auge. Sie wusste, dass sich Chiara noch immer in einem tranceartigen Zustand befand und wollte nicht, dass
sie zu Schaden kam.
Als sie Smeralda Manganos Wohnung kurze Zeit später verließen, beruhigte Chiara die Kommissarin. Ihr gehe es gut. Allerdings
wollte sie unbedingt noch einmal in Anna Principinis Wohnung.
»Ich habe etwas übersehen, ganz sicher«, sagte Chiara.
Amanda Soleri stürzte in die Wohnung. Völlig außer Atem fragte sie: »Wo ist er?« Erst dann ließ sie Tasche und Mantel fallen
und hastete in Richtung Kinderzimmer. »Er hat sich beruhigt und ist in seinem Zimmer. Ich hatte solche Angst!«, Nana zitterte
am ganzen Körper.
Brandos Zimmer sah aus, als wäre ein Tornado hindurchgefegt. Die Vorhänge waren heruntergerissen, das Spielzeug kaputt und
überall verteilt, die Stühle und der kleine Tisch umgeworfen. »Sie hätten das Chaos sehen müssen, bevor ich Ordnung gemacht
habe«, sagte das Kindermädchen und hob Tisch und Stühle auf. Amanda atmete tief durch und setzte sich auf Brandos verwüstetes
Bett.
Der Kleine lag zusammengekauert auf dem zerwühlten Bettlaken, das Kopfkissen fest über Kopf und Ohren gepresst. Amanda versuchte
ihm das Kissen abzunehmen, aber Brando ließ nicht los. So war es immer nach den Anfällen: Brando verkroch sich und wollte
nichts und niemanden sehen und hören.
|429| »Dieses Mal hat es länger gedauert als sonst«, Nana hob den abgerissenen Kopf und den Rumpf eines Stoffbären auf und steckte
sie in die Tasche, um sie später wieder zusammenzunähen.
»Danke, Nana, Sie können gehen, ich bleibe bei ihm.« Amanda wartete, bis das Kindermädchen die Tür hinter sich geschlossen
hatte, dann begann sie lautlos zu weinen. Auch seitdem er bei ihr lebte, hatte sich Brandos Zustand nicht verbessert. Es war
ein Fehler gewesen, ihn zu adoptieren. Sie war gescheitert.
»Was habe ich nur falsch gemacht?«, fragte sie sich und presste die Hand auf den Mund, damit Brando ihr Schluchzen nicht hörte.
In der letzten Zeit hatten sich die Anfälle gehäuft. Von einer Minute auf die andere konnte seine Stimmung umschlagen. Amanda
überlegte. War es der Stress? Oder ihre turbulente Beziehung zu Spargi? Seit Annas Tod waren ihre Nerven zum Zerreißen gespannt.
Sie war launisch und gereizt, wie damals, als sie Brandos Gequengel einfach nicht mehr ertragen konnte und seine geliebte
Plüschgiraffe aus dem Fenster geworfen hatte.
Brando hatte sich unterdessen keinen Millimeter bewegt und umklammerte immer noch sein Kissen. Amanda strich vorsichtig über
seine Hand. Sie hatte Angst. Wie würde er reagieren? Manchmal genügte eine
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