Ich kenne dein Geheimnis
Ruocco auf seine Pflichten hinzuweisen.
»Seine Eminenz Cosimo di Medinaceli wird der Vormund meines Sohnes Lupo d’Altino und der Verwalter meiner Güter in Sizilien
sein. Mit dem Segen der Heiligen Mutter Kirche verkünde ich Euch, dass ich immer einer von Euch sein werde, meine Brüder.
Für immer wird mein Herz für Recht und |422| Ordnung und für das Wohl des Volkes schlagen.« Die Brüder klatschten gerührt Beifall.
Dann kam der Abschied.
Oliva überließ Chiereghin ihr Pferd und ritt zusammen mit Volfango, seine beiden Gefolgsleute gaben ihnen von hinten Deckung.
Während sich Oliva noch fester an Volfango klammerte, wurde ihr klar, dass ihr Leben nie wieder so sein würde, wie zuvor.
Was die Zukunft für sie bereithielt, wusste sie nicht. Aber die Angst vor dem Morgen verhinderte nicht, dass sich erst ein
schüchternes Lächeln und dann ein Ausdruck purer Freude auf ihrem Gesicht ausbreiteten, als der Hafen in Sicht kam. Jeden
Moment konnten die Venezianer auftauchen, aber daran dachte sie nicht. Sie roch nur den salzigen Atem des Meeres, der in ihre
Lunge strömte und sie mit neuer Energie erfüllte.
Auf der Mole herrschte reges Treiben: Fischer, Seeleute und Händler, die lautstark ihre Waren feilboten. Das quirlige Leben
berauschte Oliva wie ein Becher guten Weins.
Kaum hatte er sie erkannt, eilte ein Seemann auf sie zu und half ihnen vom Pferd. »Rasch, Baron, Euer Schiff ist bereit zum
Auslaufen. Das Wetter ist gut, der Wind günstig. Euer Gepäck ist schon unter Deck.«
Oliva lächelte. Während ihr d’Altino an Bord half, blickte sie sich ein letztes Mal um.
» Addio , Sicilia
. Heute wird eine neue Oliva geboren«, flüsterte sie mit Tränen in den Augen. Dann schmiegte sie sich an Volfango. Arm in
Arm sahen sie ihre Heimat immer kleiner werden, bis die Menschen auf der Mole nur noch wie Ameisen wirkten.
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|423| 13
Mailand, 2009
In den würzigen Kaffeeduft mischte sich das süßliche Aroma frisch gebackener Brioches. Chiara stand auf und ließ sich von
dem herrlichen Geruch in die Küche locken. Dort hatte Silvia neben einer Tasse und einem Körbchen mit warmen Hörnchen eine
kurze Nachricht hinterlassen: »Ich erwarte dich um zehn im Büro.«
Chiara blickte auf die Uhr: kurz nach acht. Genug Zeit, ihren Kaffee zu trinken, ein Brioche mit Honig zu beschmieren, in
aller Ruhe zu frühstücken und dabei die Nachrichten auf Sky zu sehen.
Nach dem Frühstück ging sie ins Bad. Als sie am Garderobenspiegel vorbeikam, blieb sie stehen. Sie trat näher, um sich genauer
zu betrachten. Seit wann hatte sie diese dunklen Augenringe? Und seit wann war sie so blass? Vielleicht war es nur das Neonlicht
… Nein, auch im Badezimmerspiegel sah sie nicht anders aus. Wahrscheinlich waren die kräftezehrenden Visionen schuld, die
sie seelisch und körperlich ausbrannten. Doch hier in Mailand, mit Silvia an ihrer Seite, würde sie bestimmt wieder zu Kräften
kommen. So wollte sie Paolo nicht unter die Augen treten.
Sie machte sich frisch, legte ein bisschen Grundierung auf, um die Augenringe zu kaschieren, und fasste ihre Haare zu einem
Pferdeschwanz zusammen. Dann zog sie eine Jeans, einen grauen Pulli und ihre schwarze Lederjacke an. Ein |424| erneuter Blick in den Spiegel zeigte eine verwandelte Chiara, jung und dynamisch. Aber als sie nach ihrer Tasche griff, knickten
plötzlich ihre Beine ein. Sie konnte sich gerade noch an der Wand abstützen, sonst wäre sie zu Boden gesunken. Die Vision
kam mit Macht, und es gab kein Entrinnen.
Smeralda fand keinen Schlaf. Ihr Kissen war feucht von ihren Tränen. Sie starrte an die Decke. Ihre Gedanken rasten. Wieder
und wieder sah sie die Szene vor sich. Bonadeos Kuss, den sie leidenschaftlich erwidert hatte. Jedes Mal schien sie etwas
mehr von Dante Bonadeo wahrzunehmen, seinen warmen männlichen Körper, die glatte Haut, den Geruch seines Atems. Sie hatte
das Gefühl, als wäre er tatsächlich bei ihr. Smeralda ließ sich einen kurzen Augenblick lang in dieses vollkommene Glück hineingleiten.
Doch dann hatte die Angst sie wieder fest im Griff. Die Angst, dass Dante Bonadeo genauso enden könnte wie Lupo. In jedem
Glücksmoment lauerte ein böses Erwachen. Mit dem Geheimnis, das sie in sich trug, glich Smeralda einer tickenden Zeitbombe,
die jeden, der ihr zu nahe kam, mit sich in den Abgrund reißen würde. Sie presste das Kopfkissen an ihre Brust und traf eine
Entscheidung. Sie würde sich von
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